2011 war ein hochproduktives Jahr für den japanischen Filmemacher Sion Sono: Nachdem er mit „Guilty of Romance" seine Hass-Trilogie („Love Exposure", „Cold Fish") abgeschlossen hatte, verfilmte er gleich noch noch Minoru Furuyas Manga „Himizu". Nach der Fukushima-Katastrophe verlegte Sono das eigentlich im Jahr 2001 angesiedelte Endzeitdrama kurzerhand in die Jetztzeit, die entsprechenden Bilder fand er in der verwüsteten Miyagi-Präfektur. Vor dem Hintergrund der apokalyptischen Zerstörung in einer herz- und morallosen Welt kämpft Protagonist Sumida für eine lebenswerte Zukunft. Trotz allgegenwärtiger physischer und psychischer Gewalt gibt der genügsame, seine Wut in sich hineinfressende Junge nicht auf und lässt so einen Hoffnungsschimmer am dunklen Horizont des verstörenden Coming-of-Age-Dramas aufleuchten.
Eigentlich will der 14-jährige Yuichi (Shôta Sometani) bloß ein ganz gewöhnliches Leben führen. Seine herzlosen Eltern und die Folgen der Tsunami-Katastrophe jedoch machen ihm das Leben zur Hölle. Der Vater (Ken Mitsuishi) schaut nur zuhause vorbei, um ihn zu demütigen und ihm das letzte bisschen Geld abzuknöpfen, das der kleine Bootsverleih der Familie einbringt. Die Mutter (Makiko Watanabe) schaut stumm und reglos dabei zu. Dann zieht die selbstsüchtige Frau mit einem Liebhaber davon und lässt ihren Sohn mit hastig notierten Wünschen für ein angenehmes Leben zurück. Zumindest von den Tsunamiflüchtlingen, die auf dem Familiengrundstück zusammenrücken, und der von ihm besessenen Mitschülerin Keiko (Fumi Nikaidô) erfährt Yuichi etwas Unterstützung. Als plötzlich zwei Yakuza auf der Matte stehen, um die hohen Schulden seines Vaters einzutreiben, erreicht Sumidas Zorn auf seinen zerstörerischen Erzeuger einen neuen Höhepunkt...
Die realen Bilder der Zerstörung, die Sono direkt nach der Naturkatastrophe in der Miyahi-Präfektur auf Zelluloid bannte, bieten eine gespenstische Kulisse für eine Manga-Erzählung, in der pechschwarzer Humor, bitteres Familiendrama, brutale Kämpfe und schräge Highschool-Romanze ineinander fließen. Das Filmkonzept stand bereits vor der Naturkatastrophe vom 11. März 2011, ein passenderes Szenario als eben die japanische Landschaft nach dem Tsunami hätte Sono für seine Geschichte allerdings kaum schaffen können. Während der Film so durchweg atmosphärisch dicht bleibt, schleichen sich im Mittelteil dann aber auch einige Längen ein: Zwischen großen Metaphern, zahlreichen Prügelszenen und verästelten Nebenplots wirkt „Himizu" gelegentlich etwas zu ziellos. Über weite Strecken aber bleibt der Film spannend, involvierend und thematisch bedeutsam.
Wurde die japanische Jugend in Tetsuya Nakashimas Psychodrama „Geständnisse" noch als völlig verkommen gebrandmarkt, spricht sich nun ausgerechnet Enfant Terrible Sono mit seinem wortkargen aber anständigen Protagonisten für die junge Generation aus. Die Eiseskälte der Eltern wiederum ist schlichtweg atemberaubend. Immer wieder schieben die Großen Schuld und Verantwortung für ihre elendigen Lebenslagen auf ihre Sprösslinge ab. Yuichis Mutter geht sogar so weit, einen mit Leuchtketten geschmückten Galgen für ihre Tochter zu errichten. Der lokale Klassenlehrer will seine desillusionierten Schüler derweil mit platten Durchhalteparolen auf ein zweites japanisches Wirtschaftswunder einschwören, während die Katastrophenflüchtlinge noch verlorener als die Kinder selbst anmuten – und zwar dermaßen verloren, dass sie den selber so machtlosen Yuichi als ihren Erlöser preisen.
So übt Sono lautstarke Kritik an der Hoffnungs- und Antriebslosigkeit, die seit der Naturkatastrophe in ganz Japan um sich greift und den Heilungsprozess ausbremst. Sein Film bietet eine satirische Perspektive auf eine Nation, die eine der niedrigsten Geburtenraten und dabei eine der höchsten Jugendselbstmordraten der Welt verzeichnet. Haben sich japanischer Kollektivismus und Perfektionismus in Selbstmitleid und Fatalismus verloren? „Himizu" zeigt ein Japan am Abgrund, ein Land, dessen Einwohner keine Kraft mehr für den Neuanfang zu haben scheinen. Wenn sich Yuichi und Keiko gegenseitig Mut zuschreien und einer ungewissen Zukunft entgegenlaufen, löst der Regisseur seine Geschichte dann aber zum Glück doch noch minimal hoffnungsvoll auf – nach rund zwei Stunden Dunkelheit eine echte Erleichterung.
Ganz zu Recht wurden die beiden Hauptdarsteller für ihre einprägsamen Auftritte bei den 67. Filmfestspielen in Cannes gemeinsam mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für die besten Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet. Shôta Sometani („Life back Then") spielt den verschlossenen Yuichi, dessen Hilflosigkeit sich zwischenzeitlich in wahren Berserker-Anfällen Bahn bricht, so nuanciert und glaubhaft, dass er den Film fast im Alleingang trägt. Auch Fumi Nikaidô („Toad's oil") geht in ihrer Rolle als von Yuichi besessenen Mitschülerin Keiko auf und schafft es problemlos, die psychischen Risse hinter der Fassade des immerwährend plappernden Mädchens anzudeuten, ohne dabei auf überdeutliche Gesten angewiesen zu sein.
Fazit: „Himizu" ist nicht immer stringent erzählt, dabei aber durchweg brandaktuell, gruselig-intensiv bebildert und mitreißend gespielt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das hier metaphorisch zur Endzeitlandschaft erklärte Japan wieder erholt und Sonos Film damit in den kommenden Jahren an Dringlichkeit verliert!