Nach dem großen Erfolg von „The Artist“ im vergangenem Jahr, schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis andere versuchten, auf die Welle des Triumphs des Stummfilms im 21. Jahrhundert mit aufzusteigen. War „The Artist“ eine Ausnahme oder ist er nur der Anfang der Renaissance des Stummfilms? Die spanisch-französische Produktion „Blancanieves“, zu Deutsch: „Schneewittchen“ versucht ziemlich offensichtlich da anzuknüpfen, wo Hazanavicius Oscarstreifen aufhörte. Das hoffen zumindest die Produzenten die diesen Film ins Kino brachten - etwas was sich der Regisseur Pablo Berger, als er vor einigen Jahren mit den Dreharbeiten begann, wohl nie erträumt hätte. Die Rechnung scheint auch auf den ersten Blick aufzugehen. Wie sein „Vorgänger“ liebt ihn die Presse und es hagelt sprichwörtlich Auszeichnungen.
„Blancanieves“ inspiriert sich, wie dem Namen leicht zu entnehmen ist, an dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm. Die Geschichte wird in diesem Fall allerdings ins Spanien der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts versetzt und Schneewittchen transformiert sich von einer Königstochter zu Torera. Während Schneewittchen bzw. zu erst „Carmen“ noch im Mutterleibe verharrt, wird ihr Vater, ein berühmter Torero am Ende eines großen Stierkampfes, von einem Tier zu Boden getrampelt und durch dessen Hörner malträtiert. Während Carmen geboren wird, kämpfen Ärzte im selben Krankenhaus, in dem sie zur Welt kommt, um sein Überleben. Es ist aber nicht ihr Vater der stirbt, sondern ihre Mutter, welche überraschend an den Folgen der Geburt zu Tode kommt. Ihr Vater überlebt Querschnittsgelähmt. Eine Krankenschwester, die das Geschehen interessiert mitverfolgte, wittert einen großen Coup und verführt ihn. Während der Reiche Torero, vergichen mit dem grimmschen Original, den König inkarniert, inkarniert die Krankenschwester die böse und gierige Stiefmutter. Dieser Rolle wird sie dann auch voll und ganz gerecht. Von ihrem Vater verstoßen, der in ihr den Grund für den Tod seiner geliebten Frau zu sehen scheint, wächst Carmen bei ihren Großeltern auf. Als ihre Großmutter stirbt, nimmt ihr Vater sie zu sich, will aber nichts mit ihr zu tun haben. So lässt ihre neue Stiefmutter sie als Dienstmagd arbeiten und im Keller schlafen. Als sie ihren Vater eines Tages mit ihrer Existenz konfrontiert, lichten sich die finsteren Gedanken, die er über sie hegte und er schließt sie, um Verzeihung bittend, in seine Arme.
Eine starke Vater-Kind Beziehung entsteht und er erzählt ihr unter anderem, wie man einen Torero-Kampf bestreitet. Der Stiefmutter gefällt das natürlich alles nicht und sie beschließt ihren gehandicapten Mann umzubringen, indem sie ihn die Treppe hinunterstürzen lässt. Daraufhin befiehlt sie Carmen im Wald Blumen für das Grab pflücken zu gehen und gibt dem Fahrer Anweisung sie dort zu ermorden. Dieser glaubt sie ertränkt zu haben, doch wird Carmen von einem Liliputaner wiederbelebt und durch ihn von einer Art Stierkampf-Zirkus-Gruppe, die ferner aus 6 weiteren Liliputanern besteht, mitgenommen. Bei einer Aufführung steht Carmen durch einen Zufall einem kleinen Stier (sog. Vachette) gegenüber. Sie möchte einen der Liliputaner retten, der durch den Stier zu Boden gebracht wurde. Sie meistert die Ablenkung, indem sie selbst das rote Tuch ergreift und den Platz des Toreros einnimmt. Das Publikum ist begeistert und ihr scheint der Kampf im Blut zu liegen. Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Erinnerung verloren und ihr Unterbewusstsein hilf ihr wohlmöglich das vom Vater Gelernte und in seinem Umfeld gesehene zu applizieren. Daraufhin nehmen die Liliputaner sie in ihre Gruppe auf und nennen sie aufgrund ihrer Schönheit „Schneewittchen“. Auf ihren Wohnwagen schreiben sie stolz „Schneewittchen und die 7 Liliputaner“. Obwohl es nur sechs Liliputaner sind, was einer, an seinen Händen abzählend, auch sofort feststellt. Hier auf ironische Art und Weise der Bezug zu den 7 Zwergen im Originalmärchen hergestellt. Auf der Spitze ihres Erfolgs werden Schneewittchen und die Zwergen-Toreros, zur Präsentation ihrer Show, von ihrem neuen Manager in die große Stierkampfarena von Schneewittchens ehemaliger Heimat geladen. Ihre Stiefmutter ist unter den Zuschauern und gibt ihr am Ende des erfolgreichen Kampfes den im Märchen berühmt gewordenen, vergifteten Apfel. Schneewittchen beißt hinein und stirbt. Daraufhin durch ihren Manager zur Schau gestellt, versuchen Schaulustige, einer nach dem Anderen, sie „wie im Märchen“ wach zu küssen. Ein Liliputaner der sich in sie verliebt zu haben scheint, pflegt sie und schläft sogar mit in ihrem Sarg. Ob sie eines Tages wach geküsst werden wird, bleibt am Ende offen.
Das Ende ist dadurch absolut makaber und kontrovers diskutabel.
Dieser makabere Unterton ist ebenfalls in der Szene, in der die Stiefmutter zur Untermalung ihrer Boshaftigkeit genüsslich in Schneewittchens kleinen Freund den Hahn beißt, wobei Schneewittchen selbst wohlmöglich gerade die Brühe in der er Kochte als Entree verspeist hatte, wieder zu finden. Das die Mutter stirbt obwohl der Vater im sterben liegt bringt eine zynische Note dazu.
Diese Stellen bieten einen Kontrast zum Rest des Filmes, der Ausgenommen des Unfalls und Tod des Vaters, was allerdings auch nicht detailliert wird, eigentlich sehr “zahm“ und (achtung wortwitz) “farblos“ erscheint. Ein Märchen, in dem, wie ordinär, Gut und Böse gegenüberstehen, mit Leichtigkeit getanzt wird und man eigentlich nur noch auf die zwitschernde (in diesem Fall natürlich mit Untertiteln) Vögel aus den Disney-Adaptationen erwartet (und tatsächlich bekommt der Hahn kurz einen Untertitel), aber auch ein Märchen mit krassen, makaberen Schockmomenten. Die schwierige Verbindung oder gar Verschmelzung schafft Berger hier nicht.
Insgesamt ist der Film, trotz guter Schauspieler auch zu undynamisch geworden und die Handlung plätschert die meiste Zeit etwas vor sich hin.
Die Liliputaner gefallen, kommen aber erst viel zu spät ins Geschehen hinein. Der Soundtrack ist, wie es sich für einen Stummfilm gehört, grandios.
Einen guten Beitrag zum besseren kulturellen Verständnis der Filmhistorie und vielleicht eine Annäherung der alten Klassiker für junge Zuschauer , ergo ene gute Werbung für Chaplin und Co. liefert „Blancanieves“ aber schon. Es braucht keine Farbe und Ton, um einen Film zu machen. Der Schwarz-Weiß Effekt kreiert sogar produktive Kontraste, die in Farbe nicht möglich wären. So ist das „Gute“ vom „Bösen“, was in der Regel ein Märchen ausmacht, stilistisch noch besser differenzierbar. Das Spiel mit Licht und Schatten ist eine Kunst für sich. Ein kurzer Ausflug in den Exprssionismus der 20er Jahre, auch wenn dafür hier vielleicht noch explizitere Mimiken fehlen.
Im Großen und Ganzen bleibt „Blancanieves“ eine nettes Märchen für Erwachsene, das außer der sehr an den Haaren herbei gezogenen Vergleiche, nichts mit dem eigentlichen „Schneewittchen“ der Grimms zu tun hat.
An dem enthusiastischen und mitreißenden „Artist“ fliegt dieser Film jedenfalls vorbei und zeigt: Stumm und Schwarz-Weiß heißt nicht gleich dass es ein Meisterwerk sein muss. Der Stil bleibt eine Sache von vielen. Das Phänomen „Stummfilm im 21. Jahrhunderrt“ wird anstatt einer Renaisance wohlmöglich eher eine Ausnahme bleiben.