Bei seiner Geburt brach sich Michel Petrucciani alle Knochen. Die Ärzte machten seiner Mutter wenig Hoffnungen, dass ihr Sohn, der an der Glasknochenkrankheit und infolgedessen Kleinwuchs litt, besonders alt werden würde. Auch er selbst schien sich von Anfang an keinen Illusionen hinzugeben. Geduld gehörte deshalb nicht gerade zu seinen herausragenden Charaktereigenschaften. Petrucciani wusste, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, um ein Lebenswerk auf die Beine zu stellen - und so widmete er all seine Konzentration, Leidenschaft und Beharrlichkeit der Musik, speziell dem Jazz, den er am Klavier bis zur Vollendung trieb. Petrucciani ließ nichts aus und lebte ein schnelles und erfülltes Leben, während die Zeit gegen ihn arbeitete. Nicht zu Unrecht ist eine unheilvoll tickende Uhr ein wiederkehrendes - und nicht gerade subtiles - Leitmotiv in Michael Radfords routinierter Dokumentation „Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit" über die musikalische Ausnahmeerscheinung.
Glücklicherweise stand Michael Radford („Der Postmann", „1984") für seine Doku-Biografie allerhand Archiv- und Videomaterial zur Verfügung, das den Werdegang des kauzigen Genies stimmig bebildert. Ganz gleich, ob Petrucciani zu klein für die Welt oder die Welt zu klein für ihn und seine unbändige Kraft war: Der Franzose bleibt ein Mann der Widersprüche und eine faszinierende Persönlichkeit. In Aufnahmen und Fotografien, die ihn als Kind zeigen, wirkt er, als wäre er früh erwachsen geworden. Seine Augen strahlen die Traurigkeit eines alten Mannes aus. Dennoch verliert sein Gesicht niemals seine Jugendlichkeit. Immer wieder blitzt ein liebenswerter und hellwacher Schalk in seinen Augen auf. Mit einer Selbstverständlichkeit (und Arroganz), wie sie nur ein von sich selbst überzeugtes Genie haben kann, spricht er von seinen Erfolgen und der Achtung der ganz Großen, die er sich schon als Teenager erarbeitet hat. Sein Leben, so macht es zumindest den Anschein, war ein Stürmen und Drängen auf eigene Kosten – er hat sich selbst zerstört, um seine Ziele zu erreichen.
Immer wieder geht Radford auf die enge Verbindung von Musik und Schmerz ein, die Petruccianis Spiel ausmachte. Obwohl es so leicht und geschwind erschien, war es doch immer mit der Gefahr einer schweren Verletzung verbunden. Mehrmals hat sich Petrucciani beim Spiel die Finger gebrochen. Oft überstand er die Auftritte nur mit enormer Willenskraft. Musik bedeutet Leben und Leben bedeutet Schmerzen. Das Klavierspiel war für ihn jedoch nicht nur eine Leidenschaft (mit der Betonung auf „Leiden"), sondern auch eine Parallelwelt, in die er sich flüchtet. Man muss kein ausgemachter Jazz-Fan sein, um zu spüren, wie Petrucciani mit seinen Instrumenten wie mit Personen kommuniziert. Die Aufnahmen, die ihn beim Spiel zeigen, besitzen eine beinahe magische Qualität, sieht man in ihnen doch einen Menschen völlig mit seiner Profession und dem Klang verschmelzen.
Zudem kommen zahlreiche Weggefährten, Familienmitglieder, Freunde und seine Frauen zu Wort. Besonders seine Geliebten zeichnen dabei das Bild eines Mannes, der seine Gebrechen zwar nicht verheimlichen konnte, sich jedoch keinesfalls über sie definieren und vor allem kein Mitleid ernten wollte. Das hat bei nicht wenigen von ihnen einen mächtigen Eindruck hinterlassen. Mit anderen Worten: Petrucciani war ein Ladykiller vor dem Herren und ließ nichts anbrennen. Viele seiner Frauen loben seine Fähigkeiten als Lover und seine „Ausstattung", vergessen dabei aber auch nicht zu erwähnen, wie schwer erträglich seine depressiven Phasen waren und wie kaltschnäuzig er sie beizeiten abservierte. Abgesehen von den Frauengeschichten sind die Interviews allerdings konventionell geraten. Wenn etwa seine Musikerkollegen zu Wort kommen, haben sie leider nur die üblichen anerkennenden Floskeln zu bieten: Petrucciani war ein Genie mit einer unglaublichen Technik, das zwar ein wenig kompliziert, aber doch ungemein warmherzig war. Von nächtelangen Jams und einer fantastischen Zeit ist da die Rede und irgendwann langweilt diese einhellige Lobhudelei dann doch ein wenig. Interessant wird es immer dann, wenn sich die Interviewten in ihren Geschichten verheddern und andere die Irrtümer und Legenden dann doch noch als solche enthüllen. In diesen Momenten bringt „Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit" seine Zuschauer unweigerlich zum Schmunzeln. Letztendlich ist die ganze Rederei ohnehin nur Schall und Rauch. Musiker reden nicht. Musiker musizieren und artikulieren sich über ihre Kunst, genau wie es Michel Petrucciani tat - bis zu seinem Tod 1999. Er wurde nur 36 Jahre alt.
Fazit: Auch Nicht-Jazz-Fans werden von diesem Einblick in das Leben und Wirken des Pianisten Michel Petrucciani angetan sein.