Die Grünen mussten sich in der jüngste Zeit immer wieder vorhalten lassen, die Katastrophe von Fukushima kaltherzig zum Politikum umgemünzt zu haben. Der Erdrutschsieg in Baden-Württemberg ist zwar nicht nur, aber auch ein Auskommen der Angst. Man mag dem nun Moralisches entgegenhalten: Realiter profitieren Parteien nun einmal von programmkompatiblen Stimmungslagen. Ebenso ist es auch Volker Sattel kaum vorzuwerfen, dass er mit seiner bereits vor Fukushima abgedrehten Kernkraft-Dokumentation „Unter Kontrolle" jetzt rasch in die Kinos drängt. Und solange das Ergebnis dann so erfrischend unkonventionell ausfällt, ist auch aus didaktischen Gründen nichts einzuwenden. Anstatt sich nämlich an den thematischen „Common Sense" zu halten, orientiert sich der Speyerer am dokumentarischen Programm eines Werner Herzog und entwirft einen verfremdenden Blick auf eine hochkomplexe, technisierte Praxis. Konzeptionell macht das Sinn, denn die Kernenergie gehört zu den Errungenschaften der modernen Gesellschaft, die sich im Spannungsfeld von Vertrautem und Unvertrauten bewegen und darin prinzipielle Fragen nach der Berechenbarkeit der Welt aufwerfen. „Unter Kontrolle" ist deshalb auch viel mehr Metabetrachtung und will nicht dazu beitragen, diskursive Klarheiten zu schaffen.
Zugang findet Sattel über die scheinbare Differenz von Natur und Technik. Scheinbar deshalb, da er eben diese Trennung konsequent befragt. Nicht zufällig erinnert die Bildsprache deshalb an die eines Andrei Tarkovsky: In einer Szene spielt der Vollmond gespenstisch mit den aufsteigenden Dampfschwaden, eine andere zeigt Algen und Moos über jahrzehntealter Technologie. Natur und Technik gehen in der Betrachtung eine Symbiose ein und funktionieren nicht länger als bloße Gegenüberstellung. Diesen Kurs behält der Filmemacher auch bei, als er die riesigen Komplexe aus der Innenperspektive beleuchtet. Die technischen Erläuterungen der Angestellten wirken kryptisch. Es dominiert der Eindruck, als besteige eine Gruppe mutiger Männer einen schlafenden Riesen, ohne dessen gesamte Ausmaße jemals zu Gesicht zu bekommen. Was bleibt ist das Fantasieren über dessen wahre Gestalt. Da führt ein Kontrolleur Sattel ein Modell vor und erklärt, man hätte es konstruiert, um überhaupt eine Vorstellung davon zu bekommen, womit man es zu tun hat. Gleich winzigsten Partikeln unter dem Elektronenmikroskop existiert ein Bild, nicht aber der eigentliche Gegenstand. Dem Einwand, die Technologie sei nicht kontrollierbar, entzieht Sattel damit den Boden. Die Kernenergie bekommt erst vor dem Hintergrund der Frage nach ihrer Kontrollierbarkeit soziale Konturen.
Den Umgang mit der unsichtbaren Gefahr umreißt Sattel als eine Art Grenzerfahrung. „Unter Kontrolle" ist damit Science-Fiction-Stoff im besten Sinne: Die wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis wirft früher oder später religiöse Fragen auf, erfordert den Glauben an das Unvertraute. Und dass die spätmoderne Gesellschaft überhaupt auf eine derart eigenwillige Verschränkungen von Glaube und Wissenschaft stößt, das scheint das Ergebnis einer immer sensibleren Selbstbeobachtung zu sein, die vor allem auch die Unkontrollierbarkeit der Zukunft abstellt. Ein starkes Bild zu diesem Argument findet Sattel in Kalkar, Nordrhein-Westfalen. Der „Schnelle Brüter" war einer der ersten Meiler, die vom Netz genommen und rückgebaut wurden. Heute dreht im imposanten Schornstein ein Kettenkarussell seine Runden, die Außenfassade ziert ein Bergpanorama, um das Werk herum verläuft ein Vergnügungspark. Dann ein Blick aus der Totalen: Das ehemalige Kraftwerk ummantelt von bunten Attraktionen, am Horizont Windräder. Gesellschaft nimmt hier die Form einer Fotografie an, einer Momentaufnahme. Als möchte Sattel sagen: Je nach Blickwinkel könnte das alles auch ganz anders aussehen!
Neben dieser konzeptionellen Stärke besitzt „Unter Kontrolle" dann aber doch eine eklatante Schwäche: Seine These entfaltet der Film auf einer Spielfilmlänge von 100 Minuten. Es wirkt repetitiv, wenn ein Angestellter zum x-ten Mal dabei gezeigt wird, wie er einen Kaffee aus einem Automaten zieht. Einsichtig ist schon beim ersten Mal, dass sich im brisanten Umfeld Routinen einstellen, die das Gefahrbewusstsein überlagern. Auch bildet Sattel diese stoische Gelassenheit an anderer Stelle deutlich überzeugender ab, wenn beispielsweise trotz drohendem Funktionsausfall keine Hektik aufbrandet. Diskutabel ist weiter der häufige Wechsel der Schauplätze, mit dem der Regisseur die Wirklichkeit seiner so hermetischen Welt immer wieder empfindlich stört. Der Ausflug zu den Endlagerstätten unter Tage sowie die Aufnahmen aus einem marodierten Kraftwerk bilden dann aber wieder einen sinnvollen Kontrast zu den klinischen Innenaufnahmen betriebsbereiter Meiler: Dort in den Ruinen findet die Natur/Technik-Dialektik ihre konsequente Synthese. Aus den geborstenen Mauerfragmenten winden sich tentakelartig Stahlverbindungen, die Größenverhältnisse wirken von der Welt vollkommen entrückt. Sattel löst am Ende die künstliche Distanz von beherrschbarer Technik und obszöner Natur vollkommen auf. Selbst die musikalische Begleitung des Abspannes setzt sich aus Betriebsgeräuschen zusammen. Was dann am Ende bleibt, ist weniger Angst, sondern ein Gefühl der Ehrfurcht vor der menschlichen Schöpfung, die eben nicht nur die Vorstellung von Steuerbarkeit, sondern als Kehrseite immer auch die Erfahrung von Ohnmacht produziert.