Was bedingt einen gelungenen Kino-Abend? Das Herz der einen mag bei knalliger Action mit reichlich Explosionen, prickelnder Spannung und handfester Keile höherschlagen, während andere ulkige Gags und brachiale Schenkelklopfer bevorzugen. Oder dürfen es gar die großen Gefühle sein? Soll etwas über fremde Kulturen in Erfahrung gebracht werden, sollen existenzielle Fragen angetippt werden? Kurzweilig-spannende Geschichten und interessante Protagonisten können zumindest so ganz falsch nicht sein, abseits aller Genre-Präferenzen, auch abseits gängiger Mainstream/Arthouse-Kategorisierungen. Es darf ja auch ruhig immer wieder ein ganz klassischer Spannungsbogen mit Exposition, Höhen, Tiefen, Katharsis und schlussendlicher Auflösung sein. In jedem Fall aber will man etwas erleben im Kino, im verdunkelten Saal, im Kollektiv. Wen es nach „guter Unterhaltung" im Sinne dieser Ansprüche dürstet, der sollte einen weiten Bogen um Hugo Vieira da Silvas Drama „Swans" schlagen und sich so eine der frustrierendsten Filmerfahrungen seines Lebens ersparen.
Als seine Mutter (Maria Schuster) im Sterben liegt, kehrt der 16-jährige Manuel (Kai Hillebrand) nach Jahren, die er bei seinem seinem Vater (Ralph Herforth) im Ausland verbrachte, nach Deutschland zurück. Seit Wochen schon dämmert die ehemalige Stewardess komatös vor sich hin. Ein Hirntumor hat von ihr Besitz ergriffen und alles, was Vater und Sohn tun können, ist neben ihrem Sterbebett Wache zu stehen und stille Zwiegespräche mit sich selbst zu führen. Je länger sie in der Stadt verweilen und auf den Tod der Mutter/Ex-Frau warten, desto eher offenbart sich die Sprachlosigkeit aller Beteiligten. Jeder Versuch, sich abzulenken, endet in Entfremdung und Tristesse...
Nein, Da Silva ist kein Regisseur, der es seinem Publikum sonderlich leicht macht. „Swans" soll nicht gefallen. „Swans" frustriert. „Swans" strengt an. „Swans" bedeutet zwei lange Stunden Trübsal, Leblosigkeit und zwei höchst ambivalente Protagonisten, die sich durch leere Spitalflure schleppen und verwirrt oder scheinbar unbeteiligt vor sich hinstarren. Was leicht wie ein vernichtendes Urteil samt richterlichem Hammerschlag klingen könnte, gereicht dem Film jedoch erstaunlicherweise zum Vorteil. Wie sonst, wenn nicht auf solch fordernde Art, sind die komplizierten widersprüchlichen Gefühle dieser Figuren abbildbar? Die so schlicht scheinende Konstellation von Vater, Mutter, Kind und Tod wird bei „Swans" zu einem Labyrinth, dessen emotionale Temperatur dreistellige Minusgrade erreicht. Hier sind Gefühle roh, werden nicht von Musik begleitet, die dem Publikum verrät, was von den Menschen auf der Leinwand und ihren widersprüchlichen, desorientierten Auftritten zu halten ist. Wer gut und wer böse ist, was richtig und was falsch und mit wem man hier mitzufiebern hat, all das ist ganz und gar offen.
„Swans" ist eine der schwierigsten Herausforderungen des Kinojahres 2011. Da Silva nimmt sein Publikum ernst, er gaukelt nicht vor, dass die mit „Swans" aufgefächerte Palette an Emotionen mit konventionellen Bildern und Dialogen darstellbar sei. Stattdessen geht der Debütant das Risiko ein, zu missfallen, vor den Kopf zustoßen und zu verstören. All das gelingt ihm aufs Vorzüglichste. Wenn Petra mehrmals und quälend lang von den Krankenschwestern mit medizinischer Präzision und Kälte gewaschen wird, als wäre ihr Körper ein zwar wertvolles, doch völlig unpersönliches Stück Fleisch, artet „Swans" zu einer echten Belastungsprobe aus. Das Engagement von Darstellerin Maria Schuster, die während des gesamten Films keine Miene verzieht und deren gesamte Performance darin besteht, leblos und nackt da zu liegen, kann nur als furchtlos bezeichnet werden. Hier wird ein Körper zur Projektsfläche von Vermutungen und zum Spiegel der emotionalen Vereisung aller, die mit ihm in Beziehung stehen.
Das Spektrum der Gefühle, die Da Silva hier zu erkunden und zu durchleuchten versucht, reicht von jugendlicher Desorientierung Manuels über die verzweifelte Sinnsuche eines Vaters in der Midlife-Crisis. Beide begegnen sich nur gelegentlich auf den Trümmern eines karg-lieblosen Vater-Sohn-Verhältnisses. Ihre unbeholfenen Kommunikationsversuche enden stets und ständig in Debakeln. Dem zwischenmenschlichen Chaos stellt Kamera-Genius Reinhold Vorschneider („Im Schatten", „Orly") eine befremdlich aufgeräumte Bildsprache entgegen, lässt Vater und Sohn an jedem Ort und zu jeder Stelle deplatziert und verloren wirken. Mit Lichtquellen geht er dabei betont sparsam um.
„Swans" ist ein düsterer Film, wobei diese visuelle Finsternis keinesfalls bedrohlich oder bösartig daherkommt. Die Schwärze kalter Winternächte oder abgedunkelter Zimmer ist vielmehr der einzige Rückzugsort für die Protagonisten; die Dunkelheit die einzige Umarmung, in welche sie sich begeben können, während das Licht nur anstrengt und blendet. Im Licht wandeln sie höchstens durch sterile Spitalflure und um schlechte Nachrichten entgegenzunehmen. Da Silva schleudert seinem Publikum unverdaute und unangenehme Gefühle ins Antlitz und wird mit seiner Art des Geschichtenerzählens gewiss viele seiner Zuschauer vor den Kopf stoßen und gegen sich aufbringen. Wenn der Ärger jedoch verflogen ist und man „Swans" trotz allem Frust einfach nicht vergessen kann, dann bestätigt sich einmal mehr, dass auch ein unangenehmes Erlebnis eine lehrreiche Erfahrung sein kann.