Die leidvolle Geschichte des Baltikums war zu Beginn des Jahres schon der Hintergrund des bildgewaltigen Historienfilms „Poll" von Regisseur Chris Kraus („Vier Minuten"). Auch Regisseur Hans Steinbichler („Winterreise") wählte die Historie des Baltikums als Bühne für sein Familiendrama „Das Blaue vom Himmel". In eindrucksvollen Bildern entfaltet er eine Familienchronik und enthüllt schrittweise ein über Jahrzehnte verdrängtes Ereignis, das die Beziehung zwischen den Generationen entscheidend geprägt hat.
Ihr ganzes Leben lang hat Marga (Hannelore Elsner, als Mädchen: Karoline Herfurth) ihrer Tochter Sofia (Juliane Köhler) kaum mütterliche Gefühle entgegengebracht. Nun ist sie dement, sucht nach ihrem längst verstorbenen Mann Juris und scheint Sofia kaum noch zu kennen. Die entfremdete Tochter muss als Krankenpflegerin einspringen - dabei fällt ihr auf, dass Marga sich an ihrer Jugend abzuarbeiten beginnt. Immer wieder erzählt ihre Mutter von Geschehnissen aus Lettland zum Ende der 30er Jahre. Sofia ahnt, dass diese Vergangenheit etwas mit ihr selbst zu tun haben könnte. Kurzerhand reisen die beiden Frauen nach Riga. Dabei stößt Sophia auf ein ungeheures Familiengeheimnis...
Nach dem spröden Experiment „Autistic Disco" meldet sich Regisseur Hans Steinbichler mit seinem gefühlvollen Film „Das Blaue vom Himmel" in den deutschen Lichtspielhäusern zurück. Die superbe Kameraarbeit von Bella Halben („Im Winter ein Jahr", „Die Tür"), die schon das dritte Mal mit dem Regisseur zusammenarbeitet, liefert bezaubernde Bilder - dabei ist stets erkennbar, ob sich die Geschehnisse in den in sommerlichen Tönen gehaltenen späten 30er und frühen 40er Jahre abspielen, oder ob die Ereignisse am Rande der nahenden Unabhängigkeit Lettlands zu Beginn der 90er Jahre stattfinden.
Die Ecken und Kanten, welche Steinbichlers großartige „Winterreise" auszeichneten, werden von den Wassern der Ostsee abgeschliffen, so dass „Das Blaue vom Himmel" zwar weniger fordert und fesselt, dennoch aber ein emotionales Erlebnis bietet. Eigentlich war Monica Bleibtreu („Vier Minuten", „Soul Kitchen"), mit der Steinbichler bereits den Fernsehfilm „Die zweite Frau" gedreht hatte, für die Hauptrolle in „Das Blaue vom Himmel" vorgesehen. Doch die Schauspielerin, die zusammen mit ihrer Kollegin aus „Vier Minuten" Hannah Herzsprung das schwierige Mutter-Tochter-Gespann verkörpern sollte, erlag vor Drehbeginn einer langjährigen Lungenkrebserkrankung.
Der Regisseur übertrug die auf Bleibtreu ausgerichtete Protagonistin an Hannelore Elsner („Die Unberührbare"). Die Stimmungsschwankungen der zwischen Nähebedürfnis und Aggression taumelnden Marga werden von Elsner gekonnt, wenn auch teils überakzentuiert, dargestellt. Ärgerlich ist dabei, dass das Drehbuch ihr immerzu kontext-freie Sprichwörter in den Mund legt, die ihre geistige Abwesenheit widerspiegeln sollen, dabei jedoch bloß aufgesetzt wirken. Als sich verstoßen fühlende und dennoch fürsorgliche Tochter agiert Juliane Köhler ansprechend, bleibt aber im Schatten der sich in den Vordergrund spielenden Hannelore Elsner.
Gefangen wie ein Insekt im Bernstein ist die junge Marga in ihrer Liebe zu Juris, der sich stärker zu einer anderen Frau hingezogen fühlt. Die anfängliche Unbekümmertheit und Freude über die erträumte Hochzeit mit Juris, später auch die Besessenheit von ihrem Ehemann, arbeitet Karoline Herfurth („Vincent will meer", „Im Winter ein Jahr") in der Rolle der jungen Marga dabei ausgezeichnet heraus. Dace Eversa als gealterte Rivalin und Schlüsselfigur Ieva spricht zwar kaum ein Wort, hinterlässt aber mit ihrem stummen Porträt einer gebrochenen Frau neben Herfurth den stärksten Eindruck.
Die Aufdeckung der Familiengeheimnisse und das Eintauchen in die Vergangenheit ist von Steinbichler zuweilen arg melodramatisch inszeniert, dennoch gelingen ihm dabei begeisternde Stimmungsbilder – etwa der Anblick einer an ihrem weinenden Baby verzweifelnden jungen Marga, oder Sofias erstes Aufeinandertreffen mit Ieva. „Das Blaue vom Himmel" ist großes Gefühlskino, in dem sich einfühlsame Sequenzen und übersteigerte Momente abwechseln. Steinbichlers Familiendrama über fanatische Liebe und verdrängte Schuld ist wunderbar bebildert und toll gespielt – seine Entgleisungen in Pathos und Rührseligkeit dürften jedoch für gelegentliche Stirnrunzler sorgen.