Als sich die britischen Kolonialherren 1947 zurückzogen, spaltete sich der indische Subkontinent in das muslimische Pakistan und in die überwiegend hinduistische indische Union auf. Wegen des Streits um die Region Kaschmir kam es kurz darauf zum ersten Krieg zwischen den beiden Staaten, 1965 zu einem zweiten. Ein dritter Waffengang, bei dem Indien in den pakistanischen Sezessionskrieg eingriff, folgte 1971. Er endete mit der Unabhängigkeit Bangladeshs, dem vormaligen Ostpakistan. Die bis in die Jetztzeit nachwirkenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden heutigen Atommächten bilden einen wichtigen Teil des historischen Hintergrunds, vor dem Deepa Mehtas („Bollywood/Hollywood", „Water") magisch-realistisches Epos „Mitternachtskinder" spielt, das auf dem 1981 erschienenen gleichnamigen Roman von Salman Rushdie beruht. Der spricht in der Originalfassung nicht nur den Off-Kommentar, er hat auch das Skript geschrieben. Das Ergebnis weist einige Schwächen auf, die sich fast automatisch ergeben, wenn man ein mehrere hundert Seiten dickes Buch mit komplexer Story zur Filmtauglichkeit kondensieren muss. Sehenswert ist der Film dennoch.
„Mitternachtskinder" nennt man die Babys, die kurz nach der indischen Unabhängigkeitserklärung am 15. August 1947 zur Welt gekommen sind. Zu ihnen zählen auch Saleem, der uneheliche Sohn einer armen Hindu, und Shiva, dessen Eltern wohlhabende Moslems sind. Der Lebensweg der beiden, die in einem Krankenhaus in Bombay geboren werden, scheint vorgezeichnet. Doch unter dem Einfluss ihres sozialrevolutionären Freundes („Die Reichen sollen arm sein, die Armen reich!") vertauscht die Kinderkrankenschwester Mary (Seema Biswas) die beiden Neugeborenen, die nun unter Bedingungen aufwachsen, die das Schicksal für den jeweils anderen vorbestimmt hatte. Im Alter von zehn Jahren wird Saleem (Darsheel Safary) gewahr, dass er mit den anderen, über ganz Indien verstreuten Mitternachtskindern, die alle über unterschiedliche übernatürliche Kräfte verfügen, telepathisch in Kontakt treten kann. Zwei von ihnen werden im Leben des erwachsenen Saleem (Satya Bhabha) noch wichtige Rollen spielen: Shiva (Siddharth), der zu seiner Nemesis wird, und Parvati (Shriya Saran), in die er sich verliebt.
Die obige Schilderung gibt nur einen verschwindend kleinen Teil der gesamten Filmhandlung wieder, die weit ausholt und mit der Lovestory von Saleems Großeltern (die ja eigentlich die von Shiva sind) beginnt. Bevor Saleem selbst auf der Bildfläche erscheint, ist ungefähr eine halbe Stunde verstrichen. Am Ende hat man vier Generationen seiner Familie kennengelernt und – bis zu Indira Gandhis Sturz 1977 – einen Streifzug durch etwa 50 Jahre indisch-pakistanische Geschichte gemacht. Davon abgesehen verfügt das märchenhafte Epos über mehr als 100 Sprechrollen. Da ist es fast kein Wunder, dass beim Publikum nicht alles ankommt beziehungsweise haften bleibt – zumal das Drehbuch einiges an historischem Wissen voraussetzt und Deepa Mehta die zeitlichen Übergänge nicht immer elegant hinbekommt.
Anderes ist der Regisseurin dagegen deutlich besser gelungen. Die den magisch realistischen Ton des Films setzenden Szenen, in denen Saleem mit den anderen Mitternachtskindern telepathisch Kontakt aufnimmt, sind gut in das übrige Geschehen integriert. Zudem schafft es Deepa Mehta, für ihre erst von Darsheel Safary, dann von Satya Bhabha einnehmend verkörperte Hauptfigur Empathie zu wecken. So verfolgt man gespannt deren Schicksal, das eng mit der wechselvollen indisch-pakistanischen Geschichte verknüpft ist. Nicht von Nachteil sind dabei natürlich auch die teils wunderschönen Bilder, die Chefkameramann Giles Nuttgens („Perfect Sense") im Indien und Pakistan doublenden Sri Lanka aufnahm, sowie einige hübsche Pointen, mit denen Salman Rushdie die Story garniert hat.
Fazit: Unter der Last der unzähmbaren Fabulierlust seines Autors und der Fülle seines Stoffs geht das Indien-Epos, das noch mit einem Aufruf zur Wachsamkeit gegenüber den Errungenschaften der Demokratie verbunden ist, ein klein wenig in die Knie. Als Gesellschaftspanorama funktioniert es gleichwohl ziemlich gut – und macht definitiv Lust auf die (erneute) Lektüre der Vorlage, mit der Salman Rushdie einst international bekannt wurde.