Tanzend den eigenen Körper und dann die ganze Welt erkunden – das war immer Weg wie auch Ziel der jüdisch-amerikanischen Tänzerin und Choreographin Anna Halprin. Als Kind hat sie, die am 13. Juli 1920 in Wisconsin als Anna Schuman geboren wurde, sich Gott – wie sie selbst sagt – als Tänzer vorgestellt. Dieser Idee ist sie seither treu geblieben. Ihre Bewegungen und ihre Arbeiten sind Annäherungen an den angenommenen ersten Schöpfungsprozess. Sie suchen die Nähe zur Natur und schaffen das schon Vorhandene, das, was die Menschen umgibt, noch einmal neu in ritualisierten und dabei doch ganz freien Bewegungsfolgen. Tanzen heißt für Anna Halprin das menschliche Atmen sichtbar machen, oder anders – nicht ganz so poetisch-metaphorisch – gesagt: Tanzen ist Leben, Leben ist Tanzen. Wie eng für Anna Halprin das eine mit dem anderen verschränkt ist, davon zeugt nun auch „Breath Made Visible", Ruedi Gerbers ungeheuer materialreiche Dokumentation über diese Ausnahmekünstlerin, die den modernen Tanz wie nur wenige andere geprägt hat.
In den 70er Jahren hatte sich Anna Halprin nach einer Krebserkrankung von der Bühne zurückgezogen und angefangen, eine Art Tanz-Therapie für Kranke zu entwickeln. Die Kunst wurde dabei zu einem entscheidenden Aspekt im Rahmen eines größeren Prozesses, der eher auf eine innere Heilung als auf medizinische Maßnahmen setzt. Nach der Jahrtausendwende ist die Tänzerin dann doch wieder ins Theater zurückgekehrt, u.a. mit einer Choreographie, in der sie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt und tanzt. Dieses Programm ist auch die Folie für Ruedi Gerbers Annäherung an Anna Halprins Leben. Er zeichnet ihren Weg, der sie von ihren ersten Tanzstunden über Unterricht bei Isidora Duncan zunächst an die Universität von Wisconsin, dann nach New York und schließlich nach San Francisco geführt hat, wo sie mit ihrem eigenen Workshop begann, mehr oder weniger chronologisch nach.
Ruedi Gerber konnte für „Breath Made Visible" auf sehr viele Originaldokumente in Form von Fotos und Filmen zurückgreifen, die die Erzählungen der Tänzerin und die Aussagen ihrer Angehörigen wie ihrer Weggefährten eindringlich illustrieren. Die Filme und Videos, die Anna Halprins Auftritte und ihre Choreographien für ein größeres Publikum und für spätere Generationen festgehalten haben, sind so etwas wie die Herzstücke dieser Dokumentation. Sie zeugen nicht nur von der Brillanz dieser Künstlerin. Sie fügen sich zudem zu einer Geschichte des modernen Tanzes zusammen.
Alles begann mit den in Halprins Workshop entstandenen Arbeiten mit John Graham und A. A. Leath, in denen sich die Ausdrucksformen des Modern Dance der Alltagswelt öffneten. Eben dieser Alltag drang dann immer weiter in ihr Werk ein. Die blutigen Rassenunruhen in Watts, einem ghettoähnlichen Stadtteil von Los Angeles, im Jahr 1965 inspirierten sie, erstmals eine Company mit schwarzen und weißen Tänzern zu gründen. Wenige Jahre später folgten Anti-Vietnam-Kriegs-Performances auf den Straßen von San Francisco. Zugleich wandte sich die Choreographin in den 60er Jahren aber auch den grundlegenden und vor allem den rituellen Aspekten des Tanzes zu, die schließlich ihre therapeutischen Programme und ihre autobiographischen Arbeiten prägen sollten.
Alles in allem ist der Weg, den Anna Halprin genommen hat, geradezu symptomatisch für die Entwicklung dieser Kunstform und zudem noch exemplarisch für die gesellschaftlichen Entwicklungen und Strömungen in den Vereinigten Staaten seit 1950. Ruedi Gerber bewegt sich mit seinem Dokumentarfilm also ständig an der Schnittstelle zwischen privater und öffentlicher Geschichte. Aber während er die ästhetischen und die politischen Zeitläufte sehr pointiert einfängt und so verdeckte Bezüge und Entwicklungslinien transparent werden lässt, verliert sich „Breath made visible" immer dann im Vagen, wenn die Familie der Künstlerin ins Blickfeld kommt.
In einigen kurzen, sehr anrührenden Szenen des Films offenbart sich natürlich die innige Liebe, die Anna mit ihrem erst kürzlich verstorbenen Mann, dem Landschaftsarchitekten Lawrence Halprin mehr als sechs Jahrzehnte verband. Doch das war es auch schon. Über die enge (künstlerische) Zusammenarbeit der beiden verrät Gerber viel zu wenig. Und auch über das sicher nicht ganz unkomplizierte Verhältnis zwischen Anna Halprin und ihren beiden Töchtern, die in den 50er und 60er Jahren auch Teil ihrer Choreographien waren, schweigt sich der Film weitgehend aus. Es bleibt bei kleinen Andeutungen und unausgesprochenen Ahnungen. Die sind zwar durchaus aufschlussreich, doch angesichts von Annas Credo, das Leben Tanz und Tanz Leben ist, wäre ein genauerer Blick auf die sozialen wie die familiären Auswirkungen einer Existenz ganz im Zeichen der Kunst nur folgerichtig gewesen.