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    The Invisible Woman
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    The Invisible Woman
    Von Christoph Petersen

    Nach der modernen Shakespeare-Adaption „Coriolanus“ hat sich Schauspieler Ralph Fiennes („Grand Budapest Hotel“) für seine zweite Regiearbeit ein Sachbuch als Vorlage gewählt. Auf der Grundlage eines Werks der preisgekrönten britischen Biografin Claire Tomalin erzählt er in seinem historischen Liebesdrama „The Invisible Woman“ von der skandalösen Beziehung des „Eine Weihnachtsgeschichte“-Autors Charles Dickens zu der jungen Schauspielerin Nelly Ternan. Es war dann auch Tomalin, die Fiennes davon überzeugte, nicht nur Regie zu führen, sondern auch selbst die männliche Hauptrolle zu übernehmen. Seine brillante Darbietung als Dickens ist nun zugleich die größte Stärke, aber auch eine der Schwächen des Films: Fiennes spielt den Künstler mit einer solchen Lebenswut, dass selbst ein heutiges Publikum sofort versteht, warum er zu einem der angesagtesten Promis seiner Zeit avancierte. Zugleich führt Fiennes einnehmendes Charisma aber auch dazu, dass man Dickens seine frauenverachtenden Ausfälle allzu leicht verzeiht und dass die in der Erzählung mitschwingende Kritik am Sexismus der viktorianischen Ära letztendlich arg kurz kommt.

    1885 führt die Lehrerin Nelly (Felicity Jones) im englischen Küstenstädtchen Margate ein auf den ersten Blick erfülltes Familienleben. Aber als sie mit ihrer Schulklasse das Stück „No Thoroughfare“ des seit eineinhalb Jahrzehnten verstorbenen Charles Dickens probt, kommen die Erinnerungen an ein früheres Leben wieder hoch, das sie noch immer verfolgt: Schließlich war die aus einer Schauspielerfamilie stammende, aber selbst mit nur wenig Bühnentalent gesegnete Nelly einst die Geliebte des weltberühmten Autors (Ralph Fiennes). Allerdings weiß das niemand um sie herum, denn die Verbindung zwischen der jungen Muse und dem verheirateten Schriftsteller sollte unbedingt ein Geheimnis bleiben. Ihre Liebe zu Dickens bedeutete für Nelly somit ein Leben als „unsichtbare Frau“…

    „The Invisible Woman“ ist so etwas wie eine auf wenigen Fakten basierende Spekulation, schließlich sind kaum Einzelheiten über die geheime Beziehung zwischen Nelly und Dickens bekannt. Deshalb verwundert es auch nicht, dass sich Tomalin in ihrem Buch und nun auch Fiennes in seinem Film nicht wirklich festlegen wollen und gleich eine ganze Reihe möglicher Motivationen für Nellys Verhaltensweise anreißen: Wenn die junge Frau jegliche soziale Kontakte außer zum Geliebten abbricht und sich in die Isolation zurückzieht, dann geht es nicht zwangsläufig nur darum, sich ganz der geheimen Beziehung hinzugeben, sondern Nelly will zugleich auch nicht länger ihrer Mutter Frances (Kristin Scott Thomas) und ihren talentierteren Schwestern auf der Tasche liegen. Felicity Jones („Like Crazy“) gelingt mit viel emotionaler Intelligenz das Kunststück,  Nelly trotz ihres Daseins als Unsichtbare fast wie eine selbstbestimmte Heldin dastehen zu lassen. Aber am Ende bleibt ihre Figur, die auch 15 Jahre nach Dickens‘ Tod noch jeden Tag in Erinnerungen schwelgend am Strand entlangwetzt, als gäbe es kein Morgen mehr, trotzdem ein kaum zu entschlüsselndes Mysterium.

    Neben der unsichtbaren gibt es natürlich auch noch eine sichtbare Frau an Dickens‘ Seite – und deren Martyrium ist deutlich greifbarer: Die dickliche und ohne jedes Gespür für die schönen Künste ausgestatte Catherine Dickens (herausragend: Joanna Scanlan) erträgt die immer öfter auch offen zur Schau gestellte Verachtung ihres Mannes mit störrischer Fassung. Selbst als sie ein versehentlich an sie gesendetes Geschenk auf Dickens‘ Geheiß persönlich an seine Geliebte weiterreichen muss, begegnet sie der Erniedrigung mit einem schmerzhaften Pragmatismus. Erst als ihr Mann in einem Zeitungsartikel öffentlich ankündigt, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben will, bricht die zuvor vollkommen gefühllos wirkende Frau plötzlich in Tränen aus – der emotionalste und eindringlichste Moment des ganzen Films. Durch die Entscheidung, Nelly zur zentralen Figur des Films zu machen, wird Catherines Schicksal allerdings an die Seite gedrängt und dazu sorgt Fiennes‘ mitreißend-lebenshungrige Darstellung auch noch dafür, dass das Publikum trotz Dickens‘ Egoismus immer auf seiner Seite steht. Sicherlich hätte eine ambivalentere Darstellung die Gefahr mit sich gebracht, dass der Zuschauer bei der zentralen Romanze nicht mehr ganz so doll die Daumen für ein Happy End drückt, aber dieses Risiko hätte sich ziemlich sicher bezahlt gemacht.

    Fazit: Die Frauen in „The Invisible Woman“ fügen sich ohne großes Murren in ihre im viktorianischen England für sie vorgesehenen Rollen in der zweiten Reihe. Das ist eine erfrischende Abwechslung zu vielen anderen unhistorisch überhöhten Kostüm-Dramen, aber diese ganz ohne gewaltige Gefühlsausbrüche auskommende Dreiecksgeschichte ist dadurch auch einseitig und mitunter sogar etwas zu leise.

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