Hier wird kein türkisches Sittengemälde gezeigt, sondern eine präzise Studie einer patriarchalischen Familienstruktur und ihrer konfliktreichen Beziehung zur Moderne. Wie sich dies auf die einzelnen Familienmitglieder auswirkt, wie sie sie zu unterwandern versuchen oder bewahren müssen, zeigt "Die Fremde" mit schonungsloser Intensität und ohne Schwarz-weiss-Malerei anhand einer Tochter, die sich emanzipieren will und dabei ihrer Familie und den Traditionen immer fremder wird. Der Film zeigt aber auch die innere Zerrissenheit des Vaters, der sich für seine Tochter oder für die Ehre seiner Familie entscheiden muss, was zugleich eine Analogie für den Konflikt zwischen Moderne und Tradition darstellt. Eine traditionalistische Parallelgesellschaft mag in sich gut funktionieren, ihre Vereinbarkeit mit dem Umfeld ist jedoch problematisch und die Negierung ihrer Strukturen innerhalb des Systems beinahe unmöglich wie das Beispiel von Umay zeigt. Dass der Film solche Themen differenziert und einfühlsam, und nicht schematisch behandelt, liegt nicht nur am sehr guten Drehbuch, sondern auch an den fein ausgearbeiteten Charakteren, die von gradiosen Schauspielern verkörpert werden. Die unprätentiöse Machart trägt ebenso ihren Teil zur Güte des Films bei.
Der Film geht an die Nieren und hallt lange nach. Man sollte aber nicht das Gefühl haben, in jeder türkischen Familie gehe es so zu und her. Ebenso wenig ist der Islam schuld. Stark ausgeprägter Patriarchalismus ist ein Kennzeichen fundamentalistischer Gruppierungen verschiedenster religiöser Traditionen.
Ich bin nicht der Meinung, dass die Männer alle schlecht dargestellt werden, im Gegenteil. Sie werden nicht als feige, sondern als durch Tradition gelähmte Figuren gezeigt, die sich gerne wehren würden, aber es nicht können. Das macht die Stärke des Films für mich aus. Nur der Mann von Umay wird etwas schablonenhaft dargestellt, was aber kaum ins Gewicht fällt.