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    Melancholia
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Melancholia
    Von Christoph Petersen

    Ob die filmischen Beschränkungen der Dogma-Bewegung, die auf eine Bühne gemalten Kreidelinien in „Dogville" oder die per Zufall vom Computer bestimmten Bildausschnitte in „The Boss Of It All" – früher hatte Lars von Trier das stete Bedürfnis, unsere Sehgewohnheiten mit jedem seiner Filme aufs Neue aufzubrechen und so unsere Art des Kinokonsums kritisch zu hinterfragen. Er war ein cineastischer Rebell, der nicht unbedingt glücklich darüber schien, wenn das Publikum seine Filme mochte. Seitdem hat sich von Trier jedoch – wenn auch nicht ganz freiwillig – völlig neu erfunden. Nach dem Ausbruch einer schweren Depression dirigiert der Regisseur seine Projekte nicht mehr länger nur mit dem Kopf, sondern gewährt dem Publikum direkten Einblick in sein Seelenleben. „Antichrist" war eine ungefiltert und mit aller Gewalt auf die Leinwand geworfene Depression, der Blick eines Mannes in die Hölle, für den schon das Dasein auf der Erde kaum erträglich scheint. Inzwischen hat von Trier den Kampf mit der Krankheit angenommen und wirkt ihr mit täglichen Ritualen wie fest eingeplanten Spaziergängen entgegen. Er glaubt nun zwar immer noch, dass es vielleicht nicht das schlechteste wäre, wenn die Welt im nächsten Augenblick einfach ausgelöscht würde, aber er fühlt sich zumindest nicht mehr ganz so schlecht dabei. Sein im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes uraufgeführtes Endzeit-Epos „Melancholia" ist aus genau diesem Gefühl heraus entstanden.

    Justine (Kirsten Dunst) war schon immer melancholisch. Nun will sie in die Welt der „Normalen" zurückkehren, indem sie ihre Hochzeit mit einer märchenhaften Feier auf einem schwedischen Schloss inklusive 18-Loch-Golfkurs begeht. Sie gibt sich wirklich alle Mühe, alles mit einem Lächeln zu ertragen, doch die hohlen Rituale vom Kuchenanschneiden bis zum Brautstraußwerfen sind einfach zu viel für sie. Am Ende der Nacht wundert sie sich, warum der Stern Antares aus dem Sternbild Skorpion plötzlich nicht mehr am Himmel zu sehen ist... Die zweite Hälfte des Films handelt dann vornehmlich von Justines fürsorglicher Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg). Diese hat unglaubliche Angst vor dem riesigen Planeten Melancholia, auch wenn ihr Mann John (Kiefer Sutherland) ihr immer wieder versichert, dass er an der Erde vorbeifliegen wird. Während Claire immer besorgter wird und sich vorsichtshalber sogar schon mal eine Packung Schlaftabletten zurechtlegt, gewinnt Justine in Anbetracht des drohenden Weltuntergangs immer mehr an Selbstbewusstsein...

    Lars von Trier macht gar keinen Hehl daraus, dass er Justine als sein Alter Ego sieht. Wie der Regisseur gibt auch sie sich alle Mühe, etwas an ihrem Zustand zu ändern. Natürlich scheitert sie am Ende an all den leeren Worthülsen und Ritualen, die man auf so einer Hochzeit nun einmal über sich ergehen lassen muss - aber zumindest hat sie es versucht. Das klingt im ersten Moment unglaublich düster und depressiv, aber das ist es überraschenderweise gar nicht. Denn von Trier weiß Justines Bemühungen durchaus anzuerkennen – für ihn ist sie nicht das Opfer, sondern die heimliche Heldin des Abends. Das Ganze bleibt so immer noch weit entfernt von leichter Kost, aber von Trier inszeniert Justines Scheitern doch eher leichtfüßig und nimmt sich zwischendurch sogar immer wieder Zeit für humorvolle Einschübe. So zum Beispiel für einen Running Gag um den Hochzeitsplaner (Udo Kier, „The Mother Of Tears"), der sich jedes Mal die Hände vors Gesicht hält, wenn er Justine begegnet: Er kann der Braut, die seine Hochzeit ruiniert hat, unmöglich noch länger ins Gesicht sehen.

    Als von Trier „Melancholia" geschrieben hat, wollte er den Film eigentlich mit Penélope Cruz als Hauptdarstellerin realisieren, aber diese musste dann wegen Terminüberschneidungen mit einem anderen Projekt absagen. Mit Kirsten Dunst („Spider-Man") hat der Regisseur allerdings einen mindestens ebenbürtigen Ersatz aufgetan. Die Schauspielerin besitzt Fotos von sich aus der Zeit, in der sie selbst an einer Depression litt. Auf diesen lächelt sie zwar, aber ihr Blick ist doch vollkommen leer. Diesen Ausdruck bringt sie nun auch in „Melancholia" immer wieder ein. Außerdem gelingt es ihr, trotz allem stets die Würde ihres Charakters zu wahren. Am Ende der Nacht kann sich das Publikum nicht einmal sicher sein, ob nicht vielleicht doch Justine diejenige unter den Hochzeitsgästen ist, die die Welt am klarsten sieht.

    John Hurt („V wie Vendetta") als mit jungen Frauen rumschäkernder Vater, Stellan Skarsgard („Thor") als machthungriger Boss, Alexander Skarsgård („Battleship") als überforderter Neu-Ehemann und Kiefer Sutherland („24") als allzu pragmatisch denkender Schwager – die übrigen Hochzeitsgäste kratzen zwar hin und wieder kurz an der Grenze zum Klischee, aber bei dieser geballten darstellerischen Qualität braucht man keine Angst zu haben, dass sie diese tatsächlich überschreiten könnten. Ganz im Gegenteil: Obwohl sie nur in ganz wenigen Szenen auftaucht, ringt Charlotte Rampling („Swimming Pool") als misanthropische Mutter dem Publikum ein tieferes Verständnis für diese archetypische Figur ab, als es weniger begabte Schauspielerinnen in einem ganzen Film zustande bringen.

    In der zweiten Filmhälfte dreht sich dann alles noch stärker um das Verhältnis der zwei Schwestern. Verkörperte Charlotte Gainsbourg („The Science of Sleep") in „Antichrist" noch die teuflische Irre, die Willem Dafoe die Hoden mit einem Holzblock zertrümmerte, um ihn anschließend Blut ejakulieren zu lassen, gibt sie diesmal die liebende Mutter, Schwester und Ehefrau. Das ist sicherlich weit weniger spektakulär, aber nicht minder gut gespielt. Wo Justine sich zunehmend wohler fühlt, weil ja ohnehin alles bald ein Ende haben wird, hat Claire tatsächlich etwas zu verlieren und deshalb panische Angst vor Melancholia. Diese Gegensätze schaukelt von Trier immer weiter hoch, bevor er sie sich in einem monumentalen Finale buchstäblich entladen lässt.

    Von Trier hat große Angst davor, dass jemand seine Filme „nett" findet. Im Fall von „Melancholia" könnte diese Befürchtung nun zum ersten Mal in seiner Karriere tatsächlich berechtigt sein. Denn sowohl die bereits das Ende vorwegnehmende Ouvertüre zu Wagners „Tristan & Isolde" als auch der finale Weltuntergang bergen eine tiefe Schönheit in sich, die man dem Regisseur so kaum zugetraut hätte. Trotzdem könnte der Verwurf des Kitschees absurder nicht sein. Die Bilder entspringen merklich keinen kühlen Kalkulationen, sondern ehrlich empfundenen Emotionen – absichtlich hätte von Trier solche hübschen Bilder schließlich ganz sicher nicht auf die Leinwand gebracht. Tatsächlich versprüht dieser Weltuntergang fast so etwas wie Hoffnung – für die Genesung des Regisseurs und für uns alle als Bewohner dieses Planeten.

    Fazit: „Melancholia" ist nach „Antrichrist" der zweite Film, der ein direktes Produkt von Lars von Triers eigener Depression zu sein scheint. Allerdings geht es dem Regisseur inzwischen wieder ein wenig besser, weshalb „Melancholia" nicht mehr ganz so brutal-düstern, sondern in Anbetracht seiner Endzeit-Thematik streckenweise fast schon beschwingt ausfällt.

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