In Pixars Animationsfilm Findet Nemo nimmt eine Schildkröte namens Crush den titelgebenden, orange-weiß gestreiften Clownsfisch mit auf eine Achterbahnfahrt durch den Golfstrom. Dass dies von der Realität gar nicht so weit entfernt ist, wie man im ersten Moment vielleicht denken mag, zeigt die Dokumentation „Tortuga – Die unglaubliche Reise der Meeresschildkröte“ von Nick Stringer. Immerhin reist die Unechte Karettschildkröte die ersten 25 Jahre ihres Lebens tatsächlich mit Hilfe des 80 Kilometer breiten Stroms im Ozean umher. Die Meeresdokumentation setzt dabei auf die gleichen überwältigenden Kinobilder wie etwa auch Unsere Erde - Der Film oder Nomaden der Lüfte. Jedoch leidet die aufwendige Produktion bisweilen an einer zu offensichtlichen Inszenierung und einer bisweilen aufgesetzt wirkenden Moral.
Der Film eröffnet an einem Strand in Florida: Handflächengroße Baby-Schildkröten knacken ihre Eierschalen, wühlen sich drei Tage lang durch den Sand an die Oberfläche und robben anschließend 40 Meter bis ins Wasser. Auf dem mühsamen Weg fallen etliche von ihnen den scharfen Scheren der Krabben oder den langen Schnäbeln der Pelikane zum Opfer. So grausam das Naturschauspiel anmutet, so spannend ist dieser Beginn der Reise einer Schildkröte von der amerikanischen Westküste bis nach Afrika und zurück. Die Jungtiere gleiten zunächst auf einem Seetangfloß durch den Ozean. Später durchkreuzen sie einige Jahre die Sargossosee, einen riesigen See mitten im Ozean. Für die Menschen dient dieser als eine Art Müllhalde: Die mangelnde Strömung lässt Plastik jahrelang hier herumtreiben und zurückgelassenes Altöl raubt den Schildkröten die Luft zum Atmen. Wenn einige von ihnen dennoch nach einer langwierigen und gefährlichen Reise wieder an die Küste von Florida robben, um ihre Eier im Sand zu vergraben, dann ist der Film am Ende seiner Geschichte angelangt...
Was auf der Leinwand nur 85 Minuten dauert, bedeutet für die luftatmenden Reptilien ein Vierteljahrhundert. Der Film suggeriert dem Zuschauer zwar, dass er einer einzigen Schildkröte quer über den Erdball folgt – tatsächlich filmte Nick Stringer die einzelnen Stationen jedoch innerhalb eines Jahres. Er und sein Team reisten quer über den Globus, um Schildkröten in verschiedenen Stadien ihres Lebens so abzupassen, dass sich aus dem Material später ein kompletter Lebenslauf zurechtschustern ließ. Durch dieses Vorgehen entsteht zwar ein loser Handlungsfaden, der dem Film als dramaturgische Klammer dient, aber es fällt eben auch immer wieder auf, dass viele Bilder eben schlichtweg inszeniert sind. Einige der Aufnahmen drehte Stringer sogar im Studio inklusive simulierter Wellen nach. Es raubt den Bildern ihren Charme, wenn man sich beim Ansehen ein Filmteam in einem Wasserbecken vorstellt. Die Inszenierung geht an einer Stelle sogar soweit, dass das schwimmende Seetangfloß der Schildkröte von einem Containerriesen in Stücke gerissen wird, um so einen zusätzlichen Spannungsmoment zu integrieren.
Der Mensch taucht in „Tortuga“ allein als Wüstling auf. Sie zerstören das Floß der Babyschildkröte und ziehen sie später mit einer Angelschur aus dem Wasser. Auch wenn eine existenzielle Bedrohung der Meere und ihrer Bewohner durch den Menschen natürlich gegeben ist – hier wirkt das unablässige Schwingen der Moralkeule doch reichlich bemüht. Statt einer aufdringlichen Predigt wäre wohl auch eine eindringliche Einblendung im Abspann ähnlich effektiv gewesen und hätte zudem auch weniger vom eigentlichen Thema des Films abgelenkt.
Die Erzählerstimme ist ein weiteres Manko von „Tortuga“. Zwar leistet Hannelore Elsner im Grunde gute Arbeit. Mit betont sanfter Stimme erklärt sie dem Zuschauer das Leben der Schildkröten. Doch lässt sie dem Zuschauer dabei nur selten Zeit zum Durchatmen. Hier wäre weniger mehr gewesen: Die Schauwerte wären ohne Dauerbeschallung sicher noch intensiver. Zwar erhöht ein Begleittext den Informationswert, aber hier übersteigt er das richtige Maß bei Weitem. Immerhin haben sich die Autoren Mühe gegen, eine bloße Aneinanderreihung von Fakten zu vermeiden. Im Gegensatz zum Text wird mit Zahlen sparsam umgegangen. An dieser Stelle hätte wiederum mehr tatsächlich mehr sein können: Die präsentierten Fakten sind durchweg so faszinierend, dass der Zuschauer geradezu nach ihnen lechzt. Drei Tage gräbt sich die frisch geschlüpfte Schildkröte durch den Sand, bevor sie zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt – spektakulär!
Inhaltlich trägt „Tortuga“ beinahe epische Züge, schließlich erzählt der Film 25 Jahre aus dem Leben einer Schildkröte. Dass der Zuschauer teilweise mit Studioaufnahmen Vorlieb nehmen muss, ist verschmerzbar, denn nichtsdestotrotz warten gewaltige Bilder auf ihn, die etwa den Golfstrom in seiner vollen Pracht zeigen. Das Publikum erlebt hautnah den Zorn des Meeres, wenn die Brandung an felsige Klippen peitscht. Die Schwächen von „Tortuga“ sollten deshalb zumindest Ozeanfans nicht davon abhalten, ein Ticket zu lösen.