Wer schon einmal ein Konzert des Jugendorchesters „Simón Bolívar“ erlebt hat, kann die ansteckende Begeisterung bezeugen, mit der die jungen Venezolaner und ihr Dirigent Gustavo Dudamel zu Werke gehen. Die Auftritte des inzwischen berühmt gewordenen Ensembles verwandeln weltweit ehrwürdige Kulturtempel in Stätten von Euphorie und Enthusiasmus. Selbst das eher reservierte Publikum von Klassikliebhabern gibt die Zurückhaltung auf und die Konzerte verwandeln sich nicht selten zu Gemeinschaftserlebnissen, die nur mit Superlativen zu beschreiben sind. Doch hinter dem Wunder steckt System, nämlich „El Sistema“: So wird das 1975 von José Antonio Abreu ins Leben gerufene Netz von Orchestern und Musikschulen in Venezuela genannt, in dem heute fast 300.000 Kinder schon in frühen Jahren das gemeinschaftliche Musizieren erlernen und ihren Talenten entsprechend optimal gefördert werden. Das Projekt trägt nicht nur künstlerisch reiche Früchte, sondern bietet in einer von Armut und Gewalt gezeichneten Welt neue Perspektiven für die Kinder und weist der ganzen Gesellschaft einen Weg der Hoffnung. Diesen Optimismus haben sich auch die beiden Filmemacher Paul Smaczny und Maria Stodtmeier für ihre Dokumentation „El Sistema“ zu eigen gemacht. Ihr gefühlvolles Stimmungsbild vermittelt vor allem die Freude an der Musik und an der Gemeinsamkeit, die alle Beteiligten beflügelt.
Er habe drei Träume, erzählt der zehnjährige Trompetenschüler Roderyk: Er werde entweder IT-Ingenieur, Neurologe oder Musiker. Der Junge stammt aus einem der Barrios von Caracas, einer der slumähnlichen, illegalen Siedlungen, die von Bandenkriminalität, Gewalt und Drogen beherrscht werden - und seine Träume scheinen doch erfüllbar. Smaczny und Stodtmeier zeigen die Kontraste zwischen dem zerrütteten Wohnumfeld und dem harmonischen Orchesterleben auf, ein Mädchen erzählt gar, wie sie sich trotz einer Schussverletzung zum Vorspiel schleppte. Fernab jeder Beschönigung scheint die Macht der Musik indes fast unendlich. Das vermitteln die Aussagen von Initiatoren, Lehrern, Schülern und Verwandten sowie vor allem die Aufnahmen von Übungsstunden, Proben und Konzerten.
Paul Smaczny und Maria Stodtmeier haben große Erfahrung im Filmen von Konzerten und Musikern. Davon profitiert „El Sistema“. Die Aufnahmen konzentrierter Kindergesichter bei einer Übungsstunde des „Papierorchesters“, einer Trockenübung mit Instrumenten aus Pappe, illustrieren sowohl die Stimmung als auch die Schlüssigkeit des aus der Not geborenen Konzepts. Das Regie-Duo begeht nicht den Fehler, den Film mit Materialfülle zu überfrachten oder ein zu hohes Tempo anzuschlagen. Sequenzen wie eine Dirigierübung zu Tschaikowskys „Slawischem Marsch“, bei der sich die Emotionalität der Musik eindrucksvoll im Gesicht des taktschlagenden Mädchens widerspiegelt oder der berührende Auftritt des „Chors der weißen Hände“, bei dem gehörlose Kinder eine Choreographie in die Luft zeichnen, machen die Stärke des Films aus. Hier wird aus der oft beschworenen universellen Kraft der Musik ein nachfühlbares Ereignis. Die Filmemacher folgen auch sonst einem eher gefühlsgeprägten Zugang zum Thema. Ihre Identifikation mit den Idealen von Abreus „Sistema“ ist absolut, kritische Töne oder objektivierende Hintergründe finden sich hier nicht. Genau diese eindeutige Akzentuierung verleiht „El Sistema“ eine Überzeugungskraft, die über die vergleichbarer Werke wie „Rhythm Is It!“ oder Dance For All deutlich hinausgeht.
Als der Komponist, Ökonom und Politiker Abreu „El Sistema“ in den Siebzigern begründete, handelte es sich um eine überschaubare Privatinitiative. Über die Jahrzehnte verstand er es trotz wechselnder Regime für stets wachsende staatliche Unterstützung zu sorgen. Heute ist aus „El Sistema“ fast so etwas wie Venezuelas Nationalsymbol geworden. Der charismatische Macher versteht es, hehre, abstrakte Ziele in wenigen Sätzen mit Leben und Verheißung zu füllen. Sein unbescheidenes Ziel ist, mit den Mitteln von Kunst und Musik einen Kontinent nach Simón Bolívars Ideal zu schaffen und der ganzen Welt Hoffnung zu geben. Der Film „El Sistema“ ist nicht nur ein Zeugnis von der beflügelnden Wirkung der Musik, auch der gar nicht so ferne Traum von einer besseren Welt findet sich in ihm auf eigene Weise wieder.