Manche Regisseure nehmen sich bewusst viel Zeit zwischen ihren Filmen. Die Projekte müssen reifen, um den hohen Ansprüchen ihrer Macher gerecht zu werden. Stanley Kubrick ist vielleicht das beste Beispiel für diese Spezies von Filmemachern. Seine Rolle nimmt in letzter Zeit der hypnotische Bildermagier Terrence Malick (Der schmale Grat) ein, der zum Frust seiner treuen Fangemeinde erst fünf Filme in 37 Jahren inszeniert hat. Doch der große britische Mystiker und Surrealist Philip Ridley steht ihm in Sachen „Kreativpause“ in nichts nach. Satte 15 Jahre ist es her, dass er nach dem Independent-Meisterwerk „Schrei in der Stille“ mit dem Psychoschocker „Die Passion des Darkly Noon“ zum legitimen Nachfolger von David Lynch auserkoren wurde. Doch Ridley verschwand bald von der Bildfläche und widmete sich mit dem Verfassen von Kinderbüchern und Theaterstücken höchst erfolgreich seinen anderen Passionen. Jetzt legt er mit dem faustischen Mystery-Psychodrama „Heartless“ sein Comeback als Filmregisseur vor.
Jamie (Jim Sturgess) führt in London als Fotograf ein wahres Schattendasein. Von Geburt an muss er mit einem herzförmigen Muttermal leben, was sein an sich hübsches Gesicht fürchterlich entstellt. Deswegen schottet sich der junge Mann gänzlich von seiner Umwelt ab und zieht nachts mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze durch die finsteren Straßen Londons – immer auf der Suche nach ausgefallenen Bildmotiven. Eines Tages bekommt er eine Horde marodierender Jugendlicher vor die Linse, deren Gesichter an gefräßige Monster erinnern. Während die Presse von Masken tragenden Banden spricht, glaubt Jamie, dass es sich bei ihnen um wahrhaftige Dämonen handelt. Jamies Leben erfährt eine fürchterliche Wendung, als nach dem Tod seines Vaters (Timothy Spall) mit seiner Mutter Marion (Ruth Sheen) seine letzte Bezugsperson von der Dämonengang ermordet wird. Der trauernde Außenseiter erhält kurz darauf über das Handy seines freundlichen Nachbarn A.J. (Noel Clarke) einen merkwürdigen Anruf, in dem ein gewisser Papa B (Joseph Mawle) um eine persönliche Audienz bittet. Beim Treffen in einem einsamen Hochhaus unterbreitet ihm der teuflische Mann ein verlockendes Angebot. Sollte Jamie Gott mit einem Graffiti verhöhnen, würde Papa B dafür sorgen, dass sein Muttermal verschwindet. Jamie willigt ein und verliebt sich in seinem neuen Lebensabschnitt gleich in die hübsche Tia (Clémence Poésy). Doch die Gegenleistung stellt sich bald als weitaus heftiger heraus, als es Jamie jemals erwartet hätte...
Oberflächlich betrachtet, bereitet Ridley „Heartless“ weitaus konventioneller auf als seine surrealistisch überhöhten Frühwerke. Doch die Fassade täuscht. Ridley packt in sein sperrig-originelles Außenseiterdrama eine Fülle an Themen, die für vier Filme gereicht hätte. Und das ist auch das eigentliche Problem von „Heartless“. Die inhaltliche Überfrachtung führt dazu, dass einige Handlungsstränge und Storyeinfälle nur angerissen, aber nicht in letzter Konsequenz auserzählt werden. Zu Beginn erinnert Ridleys bitteres Porträt der außer Rand und Band geratenen Londoner Jugendbanden an eine Sozialstudie, wie sie auch aus der Feder eines Ken Loach oder Mike Leigh stammen könnte. Dann schwenkt der Regisseur plötzliche ins Horrorgenre um. Vordergründige Tonspureffekte sorgen für das ein oder andere Schockerlebnis, während die Dämonenbrut bei ihren brutalen Schlägerstreifzügen gezeigt wird. Und als ob das nicht schon genügen würde, erweist Ridley schließlich auch noch dem Faust-Mythos seine Referenz. Überdeutlich skizziert er Papa B als verführerisch-bedrohliche Mephistofigur, während der hadernde Intellektuelle Jamie den Faust-Widerpart gibt. Die Krönung ist eine traumhaft-irreal anmutende Liebesgeschichte, die so schnell aus dem Plot wieder verschwindet, wie sie gekommen ist. Mit dem genialischen Gastauftritt des „Waffenmannes“ (Eddie Marsan, Sherlock Holmes) kommen dann sogar noch komische Elemente hinzu.
Dass „Heartless“ unter der Fabulierlust von Philip Ridley nicht zusammenbricht, liegt vor allem an der Hauptfigur. Jamie ist ein ungemein faszinierender Charakter, der den Zuschauer immer nur kleine Facetten seiner Persönlichkeit zeigt. Seine seelischen Verletzungen, der Selbsthass und die Sehnsucht nach Akzeptanz und Liebe zeichnet Ridley absolut glaubwürdig und bewegend nach. Einen großen Verdient daran hat auch der ungemein sensible Hauptdarsteller John Sturgess (Across The Universe), der in dieser Rolle endgültig beweist, dass er das Zeug zum Star hat. Seine totale Hingabe spiegelt sich auch im Soundtrack wider, an dem Sturgess sich als Sänger einiger erstklassiger Songs beteiligte.
So fahrig Ridley dramaturgisch vorgeht und manchmal sogar Spannungsbögen links liegen lässt, so bewundernswert ist immer noch seine visuelle Kraft. Den Ruf als Meister ausgefeilter Bildkompositionen beweist Ridley einmal mehr mit „Heartless“. Seine kristallklaren HD-Digitalbilder lassen einen nach wenigen Sekunden in die geheimnisvolle London-Utopie eintauchen. Mit seinem sicheren Gespür für filmischen Rhythmus, ungewöhnliche Einstellungen und eine faszinierende Ausleuchtung erreicht Ridley auch mit einem schmalen Budget eine Sogkraft, die andere Regisseure vor Neid erblassen lassen würde.
Fazit: „Heartless“ ist das komplexe und bildgewaltige Porträt eines Außenseiters auf der Suche nach sich selbst. Philip Ridley unterfüttert sein faszinierendes Psychodrama mit einer Hülle und Fülle an philosophischen und soziologischen Referenzen, worunter der Spannungsaufbau gerade in der ersten Hälfte leidet. Diese Schwäche wird aber durch die exzellente schauspielerische Leistung von Jim Sturgess in der Hauptrolle wieder ausgeglichen.