Die Liebe in den Zeiten der Billigjobs, Shoppingmalls und Überwachungskameras: Darüber einen Film zu machen, ist nicht leicht. Die Gefahr, das sozialkritische Thema depressiv und moralinsauer aufzuarbeiten, ist groß und ein solcher Film wird dann ganz schnell unguckbar - trotz und vielleicht auch wegen des berechtigten Anliegens. Doch Regisseur und Drehbuchautor Adrián Biniez meistert die schwierige Aufgabe. Sein erster Spielfilm, das Drama „Gigante“, das im Wettbewerb der Berlinale lief und mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, ist sehr ansehnliches Arthouse-Kino mit gesellschaftspolitischer Relevanz.
Jara (Horacio Camandulle) sitzt in einem engen Kabuff und bedient die Videoüberwachung eines großen Supermarktes. Normalerweise löst er bei der Arbeit Kreuzworträtsel, wenn auch das zu langweilig wird, zoomt er Frauen mit einer der Kameras in den Ausschnitt. Die Hauptaufgabe der Wachleute ist die Überwachung des Personals, Jaras Spezialität sind klauende Putzfrauen. Unter ihnen entdeckt er die junge Julia (Leonor Svarcas) und verliebt sich in ihre Erscheinung auf seinem Monitor. Von nun an überwacht er jeden ihrer Schritte. Zunächst nur über die Kameras, doch schließlich verfolgt er sie auch auf der Straße. Nur wirklich mit ihr Kontakt aufzunehmen, das traut er sich nicht.
Biniez‘ ausdrücklicher Anspruch war es, einen Film zu drehen, der vor der Handlung einer Beziehungskomödie spielt, einen Film, in dem die Paarbildung bis zuletzt nicht stattfindet. Die unbekannte Geliebte ist hier zunächst einmal nur die Projektionsfläche für den Liebenden. „Gigante“ handelt von Einsamkeit und Unsicherheit, von der Angst, sich zu offenbaren und der Furcht vor möglicher Zurückweisung. Die Hauptfigur ist entsprechend schüchtern, sogar mehr als das: Jaras Sozialverhalten unter den entfremdenden Bedingungen seines Arbeitsalltags grenzt manchmal an Autismus. Einen so passiven Helden in den Mittelpunkt eines Films zu stellen, ist ein durchaus gewagtes Unterfangen. Und dem Regisseur stellt sich die Frage: Wie lässt sich verhindern, dass dieser Film genauso langweilig wird wie das Leben, von dem er erzählt?
Adrian Biniez hat eine Antwort gefunden, denn „Gigante“ ist zu keinem Zeitpunkt langweilig. Das liegt nicht zuletzt an der Besetzung der Figur des Jara mit Horacio Camandulle: Der massige Mann wirkt wie ein sanfter Riese, hinter seinem abwesenden Blick lässt der Schauspieler eine kindliche Seele und überraschende Zartheit, aber auch einiges an unterdrückter Wut durchscheinen. Stückchen für Stückchen und immer deutlicher dringen diese Eigenschaften nach außen. Der innere Druck, unter dem der Protagonist steht, wird überzeugend spürbar gemacht, seine Unsicherheit überträgt sich auf den Zuschauer und „Gigante“ steht unter ständiger Spannung: Wird Jara irgendwann endlich handeln? Und wird dann seine zarte oder seine aggressive Seite zum Vorschein kommen?
Regisseur Biniez macht sich die menschliche Lust am Voyeurismus zunutze und etabliert über die Komplizenschaft der Schauenden eine ganz besondere Nähe zum Protagonisten. Mit ihm erhalten wir kleine Einblicke in Julias Leben und allmählich schleicht sich ein unerwartetes zusätzliches Spannungselement in den Film: Lächelt Julia da bewusst in Jaras Kamera? Hat sie vielleicht schon lange bemerkt, dass sie verfolgt wird oder ist das ein Zufall?
Biniez will nicht nur allgemein-psychologisch von der Möglichkeit einer unwahrscheinlichen, aber nicht unvorstellbaren Liebesgeschichte erzählen. Das allein ist, so wie er es umsetzt, schon aller Ehren wert, aber es geht ihm um mehr, nämlich - mit einem platten Schlagwort gesagt - um Kapitalismuskritik. Der Handlungsort Supermarkt ist nicht zufällig gewählt. Dort, wo sich alle mit dem Lebensnotwendigen versorgen können, gibt es auch Ausbeuterjobs für Billiglohnkräfte, strikt hierarchisch nach Geschlechtern getrennt: Die Frauen putzen, die Männer überwachen sie. Von ihrem Leben und voneinander entfremdet werden beide Geschlechter. Jara kann seiner Julia mit der Kamera so dicht auf den Leib rücken wie er möchte, doch außerhalb des Kontrollraums fehlt ihm die Selbstsicherheit, sie anzusprechen. Biniez zeigt all dies ganz unaufgeregt und sogar humorvoll. Doch sein Schluss macht auch klar: Die Liebe ist, wenn überhaupt, nur nach der Entlassung aus dieser Arbeit möglich.
„Gigante“ ist ein starker Film über die Liebe in den Zeiten kapitalistischer Auswüchse. Das Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände gelingt Biniez ganz unaufdringlich, der sozialkritische Hintergrund unterfüttert die individuelle Charakterstudie und auch die unkonventionelle Liebesgeschichte erhält eine zusätzliche Dimension. Dadurch gewinnt der Film auf beiden Ebenen an Kraft und Glaubwürdigkeit.