Seinem gutbürgerlichen Dasein den Rücken zu kehren, um sich mit aller Kraft den Ärmsten der Armen zu widmen, dazu gehört schon eine ganze Menge Mut. Ein paar Euros in Krisengebiete zu spenden, ist ein Anfang, doch sein Leben komplett aufzugeben und die eigene Familie zu verlassen, um sich aufopfernd um Aidskranke zu kümmern, geht den meisten dann doch zu weit. Kaum ein Mensch würde so einen Schritt mit allen Konsequenzen wagen. Die Schweizerin Lotti Latrous hat es dennoch getan. Vor etwa zehn Jahren eröffnete die zierliche Mittfünfzigerin im Elendsviertel Adjouffou der Wirtschaftsmetropole Abidjan im west-afrikanischen Staat Elfenbeinküste ein Ambulatorium für HIV-Infizierte. Dabei hatte sie die volle Unterstützung ihres Mannes, eines Nestlé-Managers, der kurz zuvor in das Land versetzt worden war. Als ihr Mann jedoch aus beruflichen Gründen nach Kairo zog, wohin auch die drei gemeinsamen Kinder, das jüngste gerade neun Jahre alt, mitgingen, blieb Lotti bei den Kranken. Sie gab ein Leben im Luxus mit Hausangestellten und Swimmingpool für ein Leben zwischen Siechtum, Elend und Tod auf. Dennoch sagt Lotti Latrous von sich selbst, sie sei die größte Egoistin der Welt. Dieser Kernaussage widmet sich der erst 27-jährige Regisseur Stephan Anspichler in seinem Porträt „Egoiste – Lotti Latrous“ über die Schweizerin des Jahres 2004.
Kein schlechter Ansatz, auf den sich Anspichler aber zu sehr versteift. So ist „Egoiste“ zwar eine Plattform für die Beichte einer Frau, die es gar nicht nötig gehabt hätte, sich öffentlich zu rechtfertigen, aber bedauerlicherweise nicht viel mehr. Besonders schade ist dies, weil die Projekte von Lotti Latrous mehr Platz verdient hätten, als ihnen in Anspichlers Dokumentation, deren Hauptaugenmerk auf der Motivation und den Schuldeingeständnissen der Protagonistin liegt, eingeräumt wird. Die Missstimmung steigert sich noch, weil der Film auch auf der handwerklich-technischen Seite nicht überzeugt. So schafft es Anspichler in doppelter Hinsicht nicht, den Zuschauer mit seiner sensiblen Thematik zu berühren.
„Ich musste das machen. Es war wie eine Sucht - wie ein Zwang. Es war ein Zwang. Ich kam davon nicht mehr los. Ich bin der größte Egoist der Welt - ganz sicher. Weil ich zuerst an mich gedacht habe, an mich ganz allein, an mein Glück.“ – Lotti Latrous
Zunächst stellt der Film in Interviews mit Patienten das „Zentrum der Hoffnung“ („Cente D‘Espoir“) der Sterbehelferin Lotto Latrous vor. So soll der Zuschauer einen Einblick in den Alltag des Hospizes bekommen. Doch schnell wiederholen sich die Aufnahmen, einige geschickt gesetzte Schnitte und Ortswechsel hätten „Egoiste“ bereits hier gut getan. Ziemlich spät erst kommt Latrous‘ Familie zu Wort. Anspichler besucht Lottis Ehemann Aziz und ihre jüngste Tochter in Kairo, die zwei älteren Kinder in der Schweiz. Alle stehen zur Entscheidung von Ehefrau und Mutter, die Familie zu verlassen. Doch was sollen sie vor der Kamera auch anderes tun, als ihrer mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagenen Mutter zuzustimmen? Einzig bei den Gesprächen mit Sohn Selim scheint der eine oder andere wehmütige Gedanke durch. Wäre Anspichler seinem Titel und seinem Hauptaugenmerk gerecht geworden, hätte er hier nachgehakt.
„Meinerseits war es kein „Loslassen“, sondern ich habe Lotti verstanden. Sie hat einmal gesagt: Aziz, du bist noch sehr jung, du kannst dein Leben wieder neu aufnehmen. Wenn du die Scheidung möchtest, lassen wir uns scheiden. Ich habe mit „Nein“ geantwortet. Eine Scheidung war nie mein Ziel. Mein Hauptziel ist meine Familie.“ – Lottis Ehemann Aziz Latrous
Anspichler wurde vor vier Jahren auf Lotti Latrous aufmerksam, als sie zum Welt-Aids-Tag ein Interview bei Johannes B. Kerner gab. Drei Jahre später drehte er mit einem dreiköpfigen Team an 21 Tagen im „Zentrum der Hoffnung“ unter schwierigsten Bedingungen: Es herrschte Bürgerkrieg. Obwohl Außenaufnahmen deshalb kaum möglich waren, begleitete das Filmteam Latrous bei ihren Hausbesuchen totgeweihter Aidskranker. Diese Aufnahmen sind es, die den Zuschauer am meisten berühren und einen wirklichen Einblick in Latrous‘ Alltag ermöglichen. Dagegen sind die Supernahaufnahmen sterbenskranker Kinder eher kontraproduktiv. Latrous stellt sich selbst den ganzen Film hindurch die Frage, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Und man glaubt ihr, dass sie dieser Konflikt tatsächlich schwer beschäftigt. Doch dann zeigt Anspichler in einer minutenlangen Close-Up-Einstellung das ausgemergelte Gesicht des sterbenden „Juniors“. Sicherlich soll diese Szene den Zuschauer zum Nachdenken anregen, doch sie wirkt eher wie eine Art „emotionale Erpressung“. War es zuvor nur schwer vorstellbar, wie Latrous so einfach ihre Familie verlassen konnte, kann man nun eigentlich nichts mehr dagegen sagen. Damit zieht Anspichlers Dokumentation eine viel simplere (und schmalzigere) Lehre, als es Lotti Latrous selbst tut.
Fazit: Hätte sich Anspichler weniger auf das „Warum?“ und mehr auf das „Wie?“ und „Was?“ konzentriert, wäre mit Sicherheit ein eindrucksvolles Porträt von Lotti Latrous dabei herausgesprungen. So bleibt „Egoiste – Lotti Latrous“ trotz einiger berührender Momente und der angebrachten Verneigung vor den Taten einer bewundernswerten Frau eine einseitige und handwerklich mäßige Dokumentation.