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    Deutschland 09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Deutschland 09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation
    Von Daniela Leistikow

    Unsere Gesellschaft individualisiert sich mehr und mehr. Ehen, die erst vom Tod geschieden werden, sind heute eine Rarität und durch den Konkurrenzkampf in Krisenzeiten wird auch die harmonische Teamarbeit immer seltener. Das sprichwörtliche „Wir“ befindet sich auf dem Prüfstand. Wer oder was ist Deutschland also am Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends? Dieser spannenden Frage nehmen sich in „Deutschland 09. 13 kurze Filme zur Lage der Nation“ einige der renommiertesten deutschen Regisseure auf sehr unterschiedliche Art und Weise an. Zwar hat das Team, darunter Tom Tykwer, Fatih Akin, Wolfgang Becker und Hans Steinbichler, sich regelmäßig getroffen, um über die Entwicklung von „Deutschland 09“ zu diskutieren. Aber die Kurzfilme wurden von 13 Einzelkämpfern angefertigt, die völlig freie Hand hatten, was Inhalt und Vorgehensweise betrifft. Herausgekommen ist bei diesem Experiment ein Deutschland-Puzzle, das heterogener nicht sein könnte. Die Kontraste zwischen den einzelnen Kurzfilmen sorgen dafür, dass der auf der Berlinale präsentierte „Deutschland 09“ über die gesamte Spielzeit von über zweieinhalb Stunden interessant und spannend bleibt.

    Ein kurzer Film in der Morgendämmerung von Angela Schanelec (Nachmittag) eröffnet „Deutschland 09“. Dann folgen, nicht chronologisch: Ein Interview mit dem Ex-Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz (Denis Moschitto, Chiko) inszeniert von Fatih Akin (Auf der anderen Seite). Der „Patient Deutschland“, der in „Krankes Haus“ von Wolfgang Becker (Good Bye, Lenin!) von Doktor Rot und Doktor Schwarz auf ganz unterschiedliche Weise wieder aufgepäppelt werden soll. Die Begegnungen dreier sehr unterschiedlicher Menschen in einer Suppenküche von Sylke Enders (Mondkalb). Dominik Graf (Der rote Kakadu) führt uns auf eine architektonische Reise vorbei an Häusern, die wie Körper aus Stein Zeugnis von Deutschlands Vergangenheit ablegen. Tom Tykwer (The International) schickt seinen Modelabel-Chef Feierlich von Frankreich in die USA und dann nach Asien – nur um ihn am Ende jedes Tages immer den gleichen Kaffee im örtlichen Starbucks ordern zu lassen.

    Christoph Hochhäuslers „Séance“ erzählt von der Flucht der menschlichen Zivilisation zum Mond und davon, wie sich die Mond-Menschen an Deutschland erinnern. Einen Dialog zwischen Susan Sonntag (Jasmin Tabatabai, Der Baader-Meinhof Komplex), Ulrike Meinhof und der Jung-Regisseurin Helen Hegeman (Torpedo) zeigt uns Nicolette Krebitz (Das Herz ist ein dunkler Wald). Dani Levy (Alles auf Zucker! ) schluckt in seinem Beitrag ein Mittel gegen die deutsche Schwarzseherei - mit erhellenden Folgen. Ein Industrieller vom Obersalzberg regt sich in Hans Steinbichlers (Winterreise) Kurzfilm über das Verschwinden der Frakturschrift aus der FAZ auf. Isabelle Stevers „Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten“ zeigt, wie in einem Schüler-Rat die Probleme der Klassengemeinschaft gelöst werden. In „Gefährder“ von Hans Weingartner (Die fetten Jahre sind vorbei) gerät ein linker Uni-Professor ins Fadenkreuz von Ermittlern, wird als Terrorist überwacht und schließlich verhaftet.

    Die Regisseure von „Deutschland 09“ im FILMSTARTS.de-Check

    Als Gesamtwerk ist „Deutschland 09“ schwer zu fassen und zu beschreiben. Der einzige gemeinsame Nenner der 13 Kurzfilme ist Deutschland, das aus vielen unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Das Themenspektrum reicht von der Anti-Terror-Datei, über Kommentaren zu Globalisierung und Armut bis hin zum Entwurf von Zukunftsszenarien und zur Behandlung als typisch deutsch geltender Verhaltensweisen. Auch in der Herangehensweise gleicht kein Film dem anderen. Verschiedene Genres wie Komödie, Science-Fiction, Halb-Dokumentarisches und Drama führen zu den unterschiedlichsten Tonfällen und Stimmungen. Absurdes, Abgedrehtes und Architektonisches stehen hier nebeneinander. Gerade diese Gegensätze sind reizvoll, zu Beginn eines neuen Beitrags, ist es stets unklar, wohin der folgende filmische Kurztrip führt.

    Nachdem „Deutschland 09“ mit der Morgendämmerung in „First Day“ eher gemächlich beginnt, folgt schnell ein Stimmungs- und Rhythmuswechsel: Dani Levy und sein Sohn Joshua laden zu herzlichem Gelächter ein. Durch die Wunderdroge Promorganas sieht Levy die Fußgänger auf seiner Straße plötzlich tanzen. Jeder Mensch grüßt ihn, bietet seine Hilfe an. Die Deutschen sind plötzlich so freundlich und fröhlich, dass der überschwänglichste Amerikaner dagegen wirkt wie ein Trauerkloß. Einen ernsteren Ton schlägt Fatih Akin an, wenn er Denis Moschitto in die Rolle des ehemaligen Guantanamo-Insassen Murat Kurnaz schlüpfen lässt. In einem Hotelzimmer kritisiert Kurnaz die Untätigkeit der deutschen Behörden und Politiker, die ihn ohne Hilfe in dem Insel-Gefängnis versauern ließen und sich bis heute nicht dafür entschuldigt haben.

    In die gleiche Kerbe schlägt „Gefährder“, wobei Weingartners Beitrag actionreicher und sehr viel beunruhigender ist als Akins Kurzfilm. Ein kleines Meisterwerk bringt Hans Steinbichler in „Deutschland 09“ ein. Sein unzufriedener Leser, der von Josef Bierbichler (Der Knochenmann) mit großer Präsenz verkörpert wird, bietet sich von Anfang an als Identifikationsfigur an. Schleichend geht der Protagonist von einfacher Empörung zu einer etwas überzogenen, aber amüsanten Reaktion auf die Veränderung seiner Lieblingszeitung über. Die politische Orientierung der Figur, die von Anfang hätte an klar sein können, wird mit dem plötzlichen Umschlagen in den Radikalismus offensichtlich gemacht. Tykwers Reisender, gespielt von Benno Fürmann (Jerichow), blickt uns naiv und verzweifelt zugleich an. Der nahezu tragikomische Film ist eine Miniatur verschiedener Stimmungen und Gefühlslagen.

    Wolfgang Beckers Beitrag karikiert den Umgang mit dem Abstraktum Deutschland, indem er das Land als Patient in die Notaufnahme einliefert, wo ihm Wirtschafts-Beschleuniger und Inflationshemmer gespritzt werden. Auch der Defibrillator wird an der personifizierten Nation ausprobiert. Der wieder einsetzende Herzschlag klingt wie der Werbe-Jingle von T-Online. Dominik Graf zeigt uns faszinierende verfallene Bauten. Die Schönheit moderner Ruinen der Großstadt wurde selten in so berauschenden Bildern eingefangen. Christoph Hochhäusler konzentriert sich in seinem futuristischen Film auf die kulturellen Hinterlassenschaften der auf den Mond ausgewanderten Menschheit. Die Räume mit ihren Möbeln, Fotografien und Erinnerungen fesseln den Blick trotz der Abwesenheit der Menschen, während aus dem Off die bedrückende Geschichte einer Gesellschaft ohne Gedächtnis erzählt wird. Nicolette Krebitz, Sylke Enders und Isabelle Stevers Kurzfilme beeindrucken nicht in gleichem Maße wie die anderen Beiträge, aber auch ihre Ansätze sind diskussions- und sehenswert.

    Fazit: Von amüsant bis verstörend, von rasant bis gemächlich und von politisch bis privat werden in „Deutschland 09“ dreizehn völlig unterschiedliche kurze Filme zu einem faszinierenden Puzzle zusammengesetzt. Der Betrachter kann ganz individuelle Schlüsse aus diesem vielstimmigen Porträt einer Nation ziehen. „Deutschland 09“ ist ein willkommener Beitrag zur Bestandsaufnahme einer Gesellschaft mitten im Selbstfindungsprozess, der einem Festival wie der Berlinale gut zu Gesicht steht.

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