Pixars neuester Streich „Merida – Legende der Highlands" ist dem 2011 gestorbenen Studio-Mitbegründer Steve Jobs gewidmet. Neben dem Animationsstudio hat Jobs noch eine weitere Firma gegründet, von der manch einer vielleicht auch schon mal gehört hat: Apple. Beide Unternehmen haben ihr jeweiliges Geschäftsfeld in den vergangenen zwei Dekaden geprägt wie kein anderes. Und beide haben inzwischen ein so hohes Niveau erreicht, dass es ihnen zunehmend schwerer fällt, weiterhin im schwindelerregenden Tempo früherer Zeiten für qualitative und technologische Quantensprünge zu sorgen. So war Apples iPhone 4S zwar ein Schritt nach vorne, aber ein kleinerer als erhofft. Und auch Pixar ist mit den Fortsetzungen „Toy Story 3" und „Cars 2" lieber auf Nummer sicher gegangen. Doch während sich bei Apple weiterhin die Frage nach dem Innovationsgehalt des iPhone 5 stellt, ist Pixar schon wieder auf die Überholspur zurückgekehrt: Mark Andrews‘ und Brenda Chapmans „Merida – Legende der Highlands" ist ein in jeder Sekunde mitreißendes Mutter-Tochter-Abenteuer vor atemberaubender Kulisse, dessen makellose Animation alles bisher Dagewesene in den schottischen Schatten stellt.
Merida (Stimme: Nora Tschirner) ist eine eigenwillige schottische Prinzessin. Seit jeher wird sie von ihrer Mutter Königin Elinor darauf vorbereitet, selbst einmal eine die Traditionen wahrende Monarchin zu werden. Aber Merida schlägt weniger nach ihrer wohlbedachten Mutter als nach ihrem hitzköpfigen Vater König Fergus: Statt nach dem Befolgen höfischer Etikette steht ihr der Sinn nach wilden Ausritten und forschen Bogenschießmanövern. Das von König Fergus angeführte Reich besteht aus vier Clans, die entgegen ihrem Naturell alle verhältnismäßig friedlich miteinander umgehen. Doch um diesen Frieden zu bewahren, müsste Merida einen der erstgeborenen Söhne eines der drei Clanchefs heiraten. Aber ein solcher Schritt kommt für die ebenso dickköpfige wie abenteuerhungrige Prinzessin natürlich überhaupt nicht in Frage. Bei einem Bogenschießwettbewerb demütigt sie ihre Verehrer und setzt damit eine Kettenreaktion in Gang, die das gesamte Königreich an den Rand des Abgrunds führt...
Hollywoods Frauenpower-Initiative geht in die nächste Runde. Nachdem sich im vergangenen Jahr die weibliche Komiker-Elite mit „Brautalarm" dasselbe Recht auf Brachialkomik wie ihre männlichen „Hangover"-Kollegen gesichert hat, setzte Jennifer Lawrence als selbstsichere Heldin in dem Mega-Blockbuster „Die Tribute von Panem" in diesem Frühjahr sogar noch einen drauf. Endlich sind starke Frauen kein Kassengift mehr! Und wenig überraschend zählen die klugen Köpfe bei Pixar mit zu den ersten, die das erkannt haben: Merida ist nicht nur die erste weibliche Pixar-Protagonistin, sie ist auch dermaßen frech, gewitzt und selbstbewusst, dass wir sie ohne zu zögern zu den begeisterndsten Animationsheldinnen überhaupt zählen. Lange könnte der Zuschauer glauben, die aufgeweckte Prinzessin müsse am Schluss doch einsehen, dass das Wahren der Traditionen unbedingt notwendig ist, aber diese Erwartung wird zum Glück auf ganzer Linie enttäuscht: Wenn sich die heutige Mädchengeneration nach dem Film fortan lieber Merida- als Barbie-Puppen ins Kinderzimmer holt, müssen wir uns zumindest schon mal eine Sorge weniger um die Zukunft machen.
Die ersten 30 Minuten sind pure Kinomagie. Bei der Einführung der Figuren gibt es keine Szene zu viel und die raue schottische Natur strahlt eine Kraft und Energie aus, wie man sie im Animationsgenre nur ganz selten findet. Vor allem Meridas waghalsiger Ausritt bis hinauf zu einem im Sonnenlicht magisch anmutenden Wasserfall ist ein einziges Fest für die Sinne. Nach einer guten halben Stunde folgt dann eine überraschende Wendung, mit der die eigentliche Handlung des Films überhaupt erst beginnt, die Pixars Marketingabteilung aber bisher so gut geheim gehalten hat, dass auch wir sie an dieser Stelle nicht einfach hinausposaunen wollen. Von da an verläuft das Geschehen vorläufig in klassisch-märchenhaften Disney-Bahnen und bietet etliche grandiose Einfälle (an erster Stelle einen durch magische Tinkturen gesteuerten Anrufbeantworter) sowie mitreißende Action (durchaus auch rauerer Art) – hier stimmt nicht nur das hervorragende Timing.
In technischer Hinsicht ist der Film vollkommen makellos. Wie es sich für eine Pixar-Produktion gehört, sind die Macher auch diesmal wieder keiner Herausforderung aus dem Weg gegangen. Ihre größten Animations-Errungenschaften sind dabei sicherlich die aus bis zu neun Lagen bestehenden traditionellen schottischen Kilts (normalerweise tun sich Animatoren schon mit zwei bis drei Lagen extrem schwer) sowie Meridas feuerrote Locken (erst spät wurde bei Tests herausgefunden, dass die Bewegung der Haare aus irgendeinem Grund erst dann real aussieht, wenn man ihre Schwerkraft im Vergleich zum Rest des Körpers heruntersetzt). Aber das sind Fakten, die vor allem bei versierten Animations-Kennern Begeisterungsstürme auslösen dürften. Was hingegen auch beim normalen Publikum für etliche Ohs & Ahs sorgt, sind die grandios animierten Panoramen der rauen schottischen Landschaft. Mit „Merida" ist das Animationskino endgültig an einem Punkt angekommen, an dem man sich nahezu jede einzelne Einstellung als Ausdruck an die Wand hängen möchte. Wenn demnächst eine Kunstgalerie nur mit Bildern aus Pixar-Filmen eröffnet, würde uns das zumindest kaum überraschen.
Fazit: Nach zwei Fortsetzungen meldet sich das weltbeste Animationsstudio in diesem Sommer mit einem Original und einem Paukenschlag sondergleichen zurück: „Merida – Legende der Highlands" ist mehr als nur der begeisterndste Animationsfilm des Jahres, er fügt sich darüber hinaus auch nahtlos in die Reihe ganz großer Pixar-Familien-Klassiker wie „Toy Story", „Die Monster AG" oder „Ratatouille" ein.