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    Der Junge im gestreiften Pyjama
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Junge im gestreiften Pyjama
    Von Jan Hamm

    Die filmische Aufarbeitung des Dritten Reiches hat einmal mehr Hochkonjunktur. Mit schonungsloser Konfrontation à la Spielberg (Der Soldat James Ryan, Schindlers Liste) haben die Näherungsversuche der jüngsten Zeit allerdings denkbar wenig zu tun. Vielmehr wird die Naziherrschaft zunehmend zur Bühne eines leicht goutierbaren Pathos. Da werden hochrangige Nazis zu Märtyrern der Menschlichkeit (Operation Walküre) und jüdische Widerständler zu maskulinen Actionheroen (Unbeugsam). Und selbst hinter jedem KZ-Aufseher verbirgt sich noch ein hochemotionales Drama (Der Vorleser). Katharsis im Sonderangebot, für den Preis eines Kinotickets – wie hübsch! Mit „Der Junge im gestreiften Pyjama“ stellt Mark Herman dem fragwürdigen Trend eine substanzielle Erzählung entgegen. Auf Basis des gleichnamigen Romans von John Boyne folgt er Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ und erzählt eindringlich vom Ende der Kindheit im Schatten eines Konzentrationslagers, ohne dabei auf plakative Schreckensbilder zurückzugreifen. Vor allem aber überzeugt Hermans Mut zur Ambivalenz, der selbst das Sanktum der Kindheit durchbricht: Hier gehen Unschuld und fatale Naivität Hand in Hand.

    Bruno (Asa Butterfield) ist acht Jahre alt und stinksauer. Sein Vater (David Thewlis, Harry Potter und der Orden des Phönix), ein hochrangiger SS-Offizier, wurde von Berlin aufs Land versetzt und nimmt seine Familie mit. Während Schwester Gretel (Amber Beattie) begeistert in NS-Lektüren eintaucht, ist Bruno ohne seine alten Spielkameraden furchtbar langweilig. Die Mahnungen seiner Mutter (Vera Farmiga) ignorierend, begibt er sich auf Erkundstouren rund ums Anwesen und entdeckt dabei einen kleinen Jungen (Jack Scanlon) – auf der anderen Seite eines Elektrozaunes. Was genau in der „Farm“ hinter der Absperrung passiert und wie jemand Shmuel heißen kann, das übersteigt seine Vorstellungskraft. Doch das sind bloß kleine Merkwürdigkeiten, die Bruno keineswegs daran hindern, sich mit dem Jungen im gestreiften Pyjama anzufreunden. Noch bevor er realisiert, was sich da direkt vor seinen Augen abspielt, fordert die grausame Wirklichkeit ihren Tribut...

    Einer der weniger spektakulären, dafür aber umso präziseren Wege, die Unmenschlichkeit einer Ideologie und der von ihr durchdrungenen Gesellschaft zu porträtieren, ist die Beobachtung ihrer Kinderfeindlichkeit. Diese Prämisse machte „Das Leben ist schön“ zu einem der bis dato kraftvollsten Shoah-Filme. Hermans Romanadapation „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wirkt wie ein komplementärer Entwurf zu Benignis Klassiker: Kindheit ist auf beiden Seiten des Zaunes unmöglich. Von der ersten Einstellung an verdeutlicht Herman die invasive Omnipotenz der NS-Ideologie, indem er die Kamera undistanziert über eine Hakenkreuzflagge tasten und sie wie einen Sichtschirm wirken lässt. Durch die Versetzung des Vaters ist Bruno zur Aufgabe seines sozialen Umfeldes gezwungen, seine Bedürfnisse sind irrelevant. Das neue Anwesen ist ihm ein Gefängnis, physisch und psychisch. Weder darf er den Wald erkunden, noch erfahren, was der schwarze Rauch am Horizont zu bedeuten hat.

    Herman macht Brunos Isolation greifbar, lässt ihn nach Auswegen suchen. Erst rein verbal, etwa bei einem Gespräch mit dem jüdischen Hausdiener Pavel (David Hayman). Ob es schön auf der Farm sei, fragt ihn der Junge – eine Frage, zu deren Beantwortung dem verstümmelten Greis die Kraft fehlt. Dann beginnt Bruno seine geheimen Erkundungen im nahen Wäldchen und trifft auf Shmuel. Jude oder nicht, das ist Bruno gleich. Er freut sich bloß, einen gleichaltrigen Spielkameraden gefunden zu haben – und sei es durch einen Elektrozaun. Schließlich führt ihn die Suche nach einem Fußball in den Keller des Anwesens. Der psychoanalytischen Theorie Freuds folgend interpretiert Herman den Keller des Seelenhauses als den Speicherraum des Unbewussten. Im schummrigen Zwielicht ruht eine Schubkarre voll gestapelter, nackter Puppen – das nunmehr unwürdige Spielzeug der indoktrinierten Gretel. Hier steht Bruno sinnbildlich vor dem Werk seines Vaters, intuitiv wissend – und doch ob der schieren Bestialität der Entdeckung überfordert und verleugnend.

    Genauso instinktiv verleumdet er Shmuel, um dem Zorn seines Vaters zu entgehen. Das ihn einschließende System lässt ihm keine Wahl, zwingt ihn zur Mitschuld. Wenn Bruno den Jungen im gestreiften Pyjama später fragt, ob die Zwei denn noch Freunde seien und sich dann mit Shmuel jenseits des Zaunes auf die Suche nach dessen Vater begibt, schlägt seine kindliche Unschuld in fatale Naivität um. Nicht anders bei seiner kaum älteren Schwester, in deren Kinderzimmer sich Propagandaplakate wie heutzutage Boygroup-Poster aneinanderreihen. Hier verdichtet Herman die Kernaussage seines Films: Eine Umwelt, die Kindern keinen Lernprozess und keine Fehltritte gestattet, ist von Grund auf unmenschlich. Das ist keineswegs neu, wohl aber von zeitloser Bedeutsamkeit.

    „Der Junge im gestreiften Pyjama“ verzichtet bedacht darauf, den Horror zu visualisieren. Wozu auch, läuft die Assoziation mit den markerschütternden Holocaust-Bildern aus bekannten Spielfilm- oder Archivaufnahmen doch permanent nebenher. Dank dieser nahezu automatischen Kontextualisierung kann Herman sich ganz auf seine Erzählung konzentrieren. Seinen Jungdarstellern entlockt er durchweg tolle Leistungen, während David Thewlis als einzig größerer Name im Cast zu wenig Spielraum bekommt. Schade, dass seine Figur ein patriarchalischer Rohschnitt bleibt und das Verhältnis zu Bruno nicht besser ausgeleuchtet wird. Immerhin ist die Innenansicht der Nazifamilie ein essentieller Bestandteil der hier geschilderten Kindheitserfahrung. Abgesehen von diesem Versäumnis ist Herman ein erzählenswerter und aussagekräftiger Beitrag zur andauernden Aufarbeitung Nazideutschlands gelungen - und das ohne die zurzeit übliche Selbstgefälligkeit.

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