Kiyoshi Kurosawa gilt als Großmeister des japanischen Horror-Kinos. Seine japanischen Geistergeschichten gehören zu den Besten des populären Genres und liefen teilweise sogar auf A-Festivals. Sein bekanntestes Werk ist „Kairo“, ein ebenso beklemmender wie intelligenter J-Horror-Film - was man vom US-Remake Pulse nicht gerade behaupten kann. Doch Kurosawa als reinen Genreregisseur abzustempeln, wäre falsch. Schon seine Horrorfilme sind immer auch ein Stück weit Drama. Mit „Bright Future“ (2003 im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes) legte er - quasi als Fingerübung - sein erstes reines Drama vor, um nun sein Meisterstück abzuliefern: „Tokyo Sonata“ ist ein schonungsloser Blick auf eine zerfallende japanische Familie. Ein Drama, das zugleich auch irgendwie Horror ist: Der Horror des Alltäglichen. 2008 wurde „Tokyo Sonata“ in Cannes zu Recht in der Reihe „Un Certain Regard“ mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.
Auf den ersten Blick sind die Sasakis eine gutbürgerliche Familie, die in Harmonie zusammenlebt und eigentlich keine Sorgen zu haben braucht. Vater Ryuhei (Teruyuki Kagawa) hat einen verantwortungsvollen Job in einer gut laufenden Firma, Mutter Megumi (Kyôko Koizumi) ist eine treue Hausfrau, die alle umsorgt. Der älteste Sohn Taka (Yû Koyanagi) ist zwar oft die halbe Nacht lang weg und studiert noch recht ziellos, aber insgesamt doch ein recht anständiger Junge. Und Kenji (Inowaki Kai), der jüngste Sohn, ist ein fleißiger Schüler. Doch dann wird die Stelle des Vaters wegrationalisiert und für ihn bricht eine Welt zusammen. Um der Schande und einem befürchteten Autoritätsverlust vor der Familie zu entgehen, gibt er weiterhin jeden Morgen vor, zur Arbeit zu gehen. In Wahrheit verbringt er die Zeit aber bei der Armenspeisung, auf dem Arbeitsamt oder in der Bibliothek. Taka ist plötzlich der Meinung, er müsse sein Studium aufgegeben und der amerikanischen Armee beitreten, um die Freiheit der Welt zu bewahren. Kenji fängt in der Schule das Rebellieren an und will plötzlich Klavier lernen. Da es ihm sein klammer Vater scheinbar grundlos verbietet, nutzt er sein Essensgeld heimlich für Klavierstunden. Nur Mutter Megumi erkennt, dass die Familie auseinanderbricht. Doch sie schweigt. Stattdessen beginnt sie, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen...
Die Suche nach Vergleichsfilmen für „Tokyo Sonata“ führt der Weg nach Deutschland. Ähnlich wie die Regisseure der Berliner Schule (siehe: Jerichow) filmt auch Kurosawa Alltägliches in ruhigen, teilweise fast statischen Bildern. In langen Einstellungen zeigt er, wie die Protagonisten voranschreiten (oder besser: schlürfen) und sich dabei immer weiter voneinander entfernen. In diesem Punkt ist der Film etwa Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner, einem der stärksten Beiträge der Berliner Schule, nicht unähnlich. Während Hochhäusler sich jedoch auf die Entfremdung und Orientierungslosigkeit des vor dem Eintritt in das Berufsleben stehenden Sohnes konzentriert, bezieht Kurosawa die Schicksale aller Familienmitglieder mit ein. Dabei liefert er eine schonungslose Analyse der Zustände in Japan, einem Land voller gesellschaftlicher Probleme.
In dieser Hinsicht ist der Vater der zentrale Punkt. In Japan gilt der Verlust des Arbeitsplatzes als große Schande, weshalb ihm das Eingeständnis besonders schwer fällt. Deshalb trägt bei der Armenspeisung auch beinahe jeder Zweite Anzug und Aktenkoffer. Obdachlose und Anzugträger bilden eine Einheit. Hier trifft der Vater auch auf seinen alten Schulfreund Kurosu (Kanji Tsuda). Dieser ist bereits ein Profi in seinem Metier. Ständig ruft er sich selbst an, um seine Familie, die er seit Monaten belügt, Geschäftigkeit vorzugaukeln. Später begeht er Selbstmord.
Teruyuki Kagawa (Tokyo!, Memories Of Matsuko, John Rabe) verkörpert den Vater mit Knautschgesicht und herunterhängenden Mundwinkeln. Dabei dient dieser als Identifikationsfigur und als Einfallstor für den wahren Horror des Alltäglichen. Hilflos müssen Vater und Publikum mit ansehen, wie der Abstieg unaufhaltsam vorangeht und immer neue Schicksalsschläge auf ihn herabprasseln. Der einstige Abteilungsleiter, ein angesehenes Mitglied seiner Firma, schrubbt schließlich Toiletten in einem Einkaufszentrum. Die Lüge, die er ständig mit sich herumschleppt, lässt ihn demütig werden, was auch auf seine übrige Familie abfärbt.
Der Newcomer Inowaki Kai spielt den gerechtigkeitsliebenden jüngeren Bruder, der Autoritäten hinterfragt und Befehlen nur gehorcht, wenn er sie nachvollziehen kann, völlig frei von jenem Nervfaktor, der neunmalklugen Kinderfiguren häufig anhaftet. Die vielfach preisgekrönte Kyôko Koizumi (Sakuran – Wilde Kirschblüte) verkörpert einen ähnlichen Charakter wie in Toshiaki Toyodas storyverwandten, aber auf völlig anderen visuellen Pfaden wandernden „Hanging Garden“. Erneut meistert sie die Rolle des vermeintlichen Familien-Ruhepols mit Bravour. Es ist an ihr, mit einem leicht surreal anmutenden, ironischen Ausbruch aus ihrer Hausfrauenrolle das Finale einzuläuten.
Das Skript zu „Tokyo Sonata“, dessen ursprüngliche Fassung der in Asien lebende Australier Max Mannix (Rain Fall) verfasste, wurde von Kurosawa und seinem Co-Autor Sachiko Tanaka aufgegriffen und aufpoliert. Das Ergebnis ist ein ungemein ruhiger Film, der ohne große dramatische Zuspitzungen und auf ungewöhnliche narrative Weise ein gekonnt düsteres Abbild der erfolgsorientierten japanischen Gesellschaft zeichnet. Es wird kaum gesprochen, die Kommunikation innerhalb der Familie besteht meist aus den immer gleichen Floskeln. Es bedarf schon einer leicht surrealen, dreifachen Erschütterung, um die Familie wieder ins Lot zu bringen. Daher ist Kurosawas Film nicht nur Zustandsbeschreibung, sondern auch ein Plädoyer an seine Landsleute und Menschen auf der ganzen Welt: Patriarchalische Rollenklischees haben endgültig ausgedient. Das Miteinander und die Kommunikation untereinander sind wichtiger denn je. Eine einfache, leicht verständliche Formel, die im zeitgenössischen Kino allerdings so oft und ausdauernd gepredigt wird wie nie zuvor.