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    Kids
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Kids
    Von Jörn Schulz

    Vor kurzem veröffentlichte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) eine Studie zur Jugendsexualität. Diese zeigt einen erfreulichen Trend auf: Innerhalb der vergangenen zwei Dekaden hat sich die Prozentzahl der Jugendlichen, die beim ersten Mal nicht verhüten, halbiert. Inzwischen achten immerhin 71 Prozent der Mädchen und 66 Prozent der Jungen auf ein Kondom beim ersten Sex. Der verantwortungsvollere Umgang mit Verhütung ist größtenteils der vermehrten Aufklärung durch Schule und Eltern zu verdanken. Doch auch Filme haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass Jugendliche heute bewusster mit Sex und Verhütung umgehen als noch vor Jahren. Das Paradebeispiel hierfür ist Larry Clarks „Kids“, der 1995 herauskam und für viel Aufregung sorgte. So umstritten und skandalös das Teenager-Drama damals bei Erscheinen anmutete, weil es sehr freizügige Sexszenen mit Jugendlichen vorführte – aus heutiger Sicht, also gut zehn Jahre danach, wird die Leistung des filmischen Werkes bei der Bewusstseinsschärfung von Jugendlichen umso deutlicher. Denn „Kids“ führt jugendliche Sub- und Sexkultur nicht einfach zu Schau, wie es dem Film oft vorgeworfen wurde. Der Film bereitet mit der expliziten Darstellung eine Katharsis vor, die keinen Teenager kalt lässt.

    Die recht simple Handlung ist schnell erzählt: Telly (Leo Fitzpatrick) ist ein typischer Teenager aus der New Yorker Unterschicht, der den ganzen Tag nur das Eine im Kopf hat: Sex. Am liebstem defloriert er Jungfrauen, weil sie keinen Gestank an sich hätten. Außerdem würde ihm diese Tat ein erhabenes Machtgefühl verleihen, denn niemand könne jemals wieder tun, was er mit den Mädchen getan hat. Jungfrau ist man eben nur einmal im Leben. Zusammen mit seinem besten Kumpel Casper (Justin Pierce), der in Sachen Sex nicht so richtig zum Zug kommt, streift er durch die Großstadt, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und Drogen. Als Kleinkriminelle klauen und schnorren sie sich durchs Leben. Was Telly nicht weiß: Er ist mit dem HI-Virus infiziert. Dies findet die 16-jährige Jennie (Chloë Sevigny) heraus, die von Telly entjungfert wurde und eigentlich nur ihre Freundin zu einem HIV-Test begleiten wollte. Sogleich macht sich Jennie auf die Suche nach Telly, der inzwischen munter und ahnungslos weiter poppt, was der Lattenrost hergibt. Auf einer Hausparty bei gemeinsamen Freunden treffen alle Akteure aufeinander...

    Vielmehr als auf die Handlung kommt es bei „Kids“ auf die Inszenierung einer glaubwürdigen Atmosphäre an. Und die ist Regisseur Larry Clark (Ken Park) und Co-Produzent Gus van Sant (Elephant, „Good Will Hunting“, Last Days) sichtlich gelungen. Die Jugendlichen bewegen sich in städtischen Räumen, die als Inbegriff sozialer Brennpunkte gelten und leben in teils abgewohnten Behausungen. Beschaffungskriminalität und Drogenkonsum stehen an der Tagesordnung. Die Armut und das Elend quillt aus vielen Ecken der Stadt hervor. Als krasser Kontrast dazu, ist der Himmel strahlend blau und scheint die Sonne den ganzen Tag, was New York in ein schwitziges Biotop verwandelt, dem man am liebsten entkommen möchte. Für weiteren Realismus im Film sorgt die überaus authentisch wirkende Jugendsprache, in der alle möglichen Sexpraktiken durchexerziert werden und nebenbei AIDS als Erfindung abgetan wird und Kondome als Unsinn befunden werden. Rumgepose als Essenz des Teenagerdaseins.

    Anfangs teilt der Film die Protagonisten in eine Mädchengruppe (Jennie und ihre Freundinnen) sowie eine Jungengruppe (Telly, Casper und ihre Kumpel) auf, was einen erkenntnisreichen Einblick in die unterschiedlichen Lebenswelten der beiden Geschlechter ermöglicht. In einer Sequenz protzen die Jungs mit ihren Errungenschaften und ihren Erfahrungen z.B. in Sachen Oralsex; als witziger Gegensatz dazu wird die Runde der Mädchen gestellt, die sich über die gleichen Themen unterhalten, nur eben aus ihrer Sicht der Dinge. Ziemlich treffsicher wird so ein Abbild der Realität Jugendlicher gezeichnet, das wert ist, gesehen zu werden und relativ nah an der außerfilmischen Wirklichkeit liegen dürfte. Erst im weiteren Verlauf des Films ziehen Jungs und Mädchen gemeinsam durch die Stadt, was wie eine zarte Annäherung an das jeweils andere Geschlecht wirkt.

    Der Filmtitel ist Programm: In der Welt der Kids gibt es kaum Erwachsene. Die wenigen Volljährigen agieren lediglich als völlig überforderte Erziehungsberechtigte (Tellys Mutter) oder als belanglose Randfiguren, wie der philosophierende Taxifahrer, der Jennie rät, nicht zu viel übers Leben nachzudenken, denn es sei einfach zu kurz. Er kann ja nicht ahnen, dass Jennies Leben durch die HIV-Infektion noch kürzer sein wird. Die Quasi-Absenz von Erwachsenen ist ein gelungener Stilgriff, der offen für verschiedene Interpretationen ist. Er kann zum Beispiel als Warnung gesehen werden kann, Adoleszente nicht alleine zu lassen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sie aber dennoch nicht einzuengen in ihrem Drang beim Sammeln von Erfahrungen.

    Einige Schwächen weist „Kids“, mit dem Larry Clark den Schritt von der Fotografie ins Filmgeschäft wagte, leider auf. Einige Szenen erscheinen unrealistisch, was den Gesamteindruck leicht schmälert. So ist Jennie, nachdem die Ärztin ihr die Hiobsbotschaft von der HIV-Infektion überbringt, wenig geschockt oder fassungslos. Eher wirkt sie als wäre bei ihr eine Grippe diagnostiziert worden. Auch wirkt „Kids“ gelegentlich etwas monokulturell, denn letztlich dreht sich in dem Film alles nur um das Eine. Lediglich ganz am Rand ist zu erfahren, dass Telly sich eigentlich einen Job suchen soll und offensichtlich nicht mehr zur Schule geht. Tiefere Einblicke in die Welt der Kids wäre dem Film und der Intention zuträglicher gewesen.

    Trotz dieser kleinen Auffälligkeiten bleibt Larry Clarks Debütfilm ein unglaublich starkes Statement und bildet zusammen mit „Ken Park“ und „Bully“ eine sehenswerte Trilogie über das Leben von Jugendlichen im zeitgenössischen Amerika. „Kids“ ist ein schonungsloser und zuweilen verstörend wirkender Film, der aber gerade deshalb so wichtig ist, weil er Teenager die Gefahren von HIV und AIDS in ihrer Sprache, mit ihren Worten vermittelt.

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