Ob Sandra Bullock die Goldene Himbeere für ihren Auftritt in der enervierenden romantischen Komödie Verrückt nach Steve nun wirklich verdient hat, oder ob am Ende nicht doch alleine PR-Gründe für ihre Wahl ausschlaggebend waren, spielt eigentlich keine Rolle. Genauso wenig wie die Frage, ob sie ihren Oscar für John Lee Hancocks vielschichtiges Südstaaten-Drama „Blind Side“ zu Recht bekommen hat. Auf jeden Fall hat sie damit, dass sie diese beiden Trophäen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen entgegennehmen konnte, Hollywood-Geschichte geschrieben. Außerdem bestätigen diese beiden Auszeichnungen noch einmal die Zwei-Klassen-Gesellschaft, die die Traumfabrik seit ihren Anfangstagen prägt. Komödien werden wie auch andere klassische Genrefilme kaum einmal ernst genommen. Dieses weite Feld überlässt die Academy gerne den anderen – etwa den Veranstaltern der Razzie Awards. Also musste Sandra Bullock erst die Hauptrolle in einem optimistischen und zudem noch extrem erfolgreichen Familiendrama spielen, um zu ihrer ersten, längst überfälligen Oscar-Nominierung zu kommen.
Für sich selbst hat Michael Oher (Quinton Aaron, Abgedreht, Fighting) niemals gekämpft. Was ihm auch geschah, er hat es einfach so über sich ergehen lassen. So ist dieser ungeheuer massige schwarze Teenager auch mehr oder weniger zufällig an einer christlichen Privatschule gelandet – und das, obwohl er eine höchst eindeutige Lese- und Schreibschwäche hat. Aber der Sportlehrer der Schule war sich nun einmal sicher, dass Michael das Football-Team enorm verstärken könnte. Ein weiterer Zufall ist es dann auch, der ihn, der eine ganze Zeit lang auf der Straße leben musste, in das Haus der wohlhabenden Familie Tuohy führt. Als die in ihren Society-Kreisen für ihr soziales Engagement schon berüchtigte Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) in einer kalten Nacht Michael alleine auf der Straße sieht und in ihm einen Mitschüler ihrer beiden Kinder Collins (Lily Collins) und S.J. (Jae Head, Hancock) erkennt, nimmt sie ihn einfach mit in ihre Villa. Aus diesem spontanen Akt der Güte erwächst im Handumdrehen eine außergewöhnliche Beziehung, die nicht nur für Michael alles verändern wird.
Die blondierte Sandra Bullock (Speed, Selbst ist die Braut) ist fraglos der große Star dieses auf einer wahren Begebenheit beruhenden Südstaaten-Epos’, das klassische Elemente mindestens dreier Genres, der High-School-Komödie, des Sportlerfilms und des Familiendramas, zu einem höchst eigenen Mix verquirlt. Als Southern Belle in den besten Jahren kann sie wirklich alle Register ihres Könnens ziehen. Wenn sie Michaels Coach vor dem versammelten Football-Team der Schule das Heft aus der Hand nimmt und ihm eine Lektion in Menschenkenntnis und -Führung erteilt, erreicht sie einen neuen komödiantischen Höhepunkt in ihrer Karriere.
Bisher hatte Sandra Bullocks Komik immer einen leicht neurotischen Zug. Ihre Figuren gaben vor jemand zu sein, der sie letztlich gar nicht waren. Ihre Stärke und ihre Entschlossenheit waren gespielt, und das wusste das Publikum ganz genau. In „Blind Side“ kann sie nun erstmals in der Rolle einer durch und durch resoluten Frau brillieren, die ganz genau weiß, was sie will und wie sie es bekommt. Aber diese herrlichen Momente, in denen Leigh Anne Tuohy High-School-Lehrer genauso wie afroamerikanische Ghettogangster in ihre Schranken verweist, sind nur die eine Seite dieses fast schon berserkerhaften, aber trotzdem ungeheuer differenzierten Auftritts. Die andere offenbart sich in den Augenblicken, in denen Leigh Anne mit tiefen Selbstzweifeln zu kämpfen hat, in denen sie sich ganz ernsthaft fragt, was ihre wahren Motivationen sind. Dieser Respekt für die unterbewussten Aspekte menschlichen Handelns, für verschüttete Gefühle wie für tiefliegende Ambitionen und Ressentiments ist an sich schon bemerkenswert. Doch durch die Unsicherheit und die Verletzlichkeit, die Sandra Bullock in diesen Szenen durchscheinen lässt, erhält er noch eine weitere Dimension. Diese Leigh Anne Tuohy bringt jegliche Klischeevorstellungen von den Menschen in den Südstaaten ins Wanken. Natürlich ist sie eine Republikanerin und ein Mitglied der NRA, was sie mehrmals betont, doch das heißt längst nicht, dass sie auch eine Konservative wäre. Der simple Dualismus von den Red States und den Blue States und der klaren Trennung zwischen ihnen wird zwar immer wieder gerne beschworen, von Hollywood genauso wie von den europäischen Medien, nur lassen sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten dann doch nicht ganz so leicht auf einen Nenner bringen.
Der Filmemacher John Lee Hancock ähnelt ohne Frage seiner Heldin. Auf den ersten Blick scheint auch er, der Regisseur des Baseball-Märchens „Die Entscheidung – Eine wahre Geschichte“ und des texanischen Durchhalte-Mythos Alamo, ein klassischer Südstaaten-Konservativer zu sein. Aber schon seine Drehbücher für die beiden Clint Eastwood-Filme Perfect World und Mitternacht im Garten von Gut und Böse passen nicht so recht in dieses Bild. Auch in ihnen ist er dem amerikanischen Süden treu geblieben, allerdings ist sein Blick auf ihn, der eines kritischen Beobachters. Mythos und Realität halten sich in ihnen die Waage genauso wie Licht und Schatten – und manchmal lässt sich das eine gar nicht mehr vom anderen scheiden.
Mit „Blind Side“, zu dem er auch das Drehbuch geschrieben hat, schließt Hancock direkt an seine beiden Arbeiten für Clint Eastwood an. Auf der einen Seite bereitet er Sandra Bullock die perfekte Bühne für einen grandiosen, auf jeden Fall Oscar-würdigen Auftritt. Auf der anderen wahrt er aber immer eine gewisse Distanz zu Leigh Anne Tuohy und ihrer Familie. Sein Blick auf die Tuohys wie auch auf die christliche Eliteschule, auf die sie ihre Kinder schicken, und das weiße Memphis ist der Michael Ohers. Dieser sanfte Riese, dem Quinton Aaron eine Aura unendlicher Gelassenheit verleiht, sagt kaum mal etwas. Deswegen halten ihn seine Lehrer und seine Mitschüler zunächst auch für etwas zurückgeblieben. Doch er besitzt eine eindrucksvolle Auffassungs- und Beobachtungsgabe. Ihm entgeht nichts, und schon gar nicht die ganzen Widersprüche innerhalb der weißen Oberschicht von Memphis. Die Zeiten des offenen Rassismus sind vorbei. Aber unterschwellig wirken die alten Dünkel und Vorurteile immer noch nach. Selbst Leigh Annes Engagement ist nicht ganz frei von ihnen. Das wissen Michael Oher und John Lee Hancock genau, und das lässt sie die Verhältnisse in den Südstaaten mit einer beeindruckenden Klarheit sehen.