Die Gnade der späten Geburt schützt nicht vor der Verantwortung, sich die Gräueltaten des Nazi-Regimes immer wieder mahnend und demütig ins Gedächtnis zu rufen. Generationen von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, sind so aufgezogen worden – bis heute. Die Demut ging soweit, dass es einem Tabu gleich kam, Deutsche in heimischen Produktionen als Kriegshelden zu feiern. In Filmen von internationalem Rang (Der Untergang, Das Boot, Sophie Scholl) dominierte stets die kollektive Schuldigenrolle des Landes. Galt es, einen deutschen Helden zu ehren, übernehmen dies meist Amerikaner wie Steven Spielberg in Schindlers Liste oder jüngst Bryan Singer in Operation Walküre. Doch die Zeiten ändern sich. Der deutsche Oscar-Preisträger Florian Gallenberger erinnert in seinem solide inszenierten, pathosreichen Kriegsdrama „John Rabe“ an den titelgebenden vergessenen Nazi-Helden, der 1937 in China 250.000 Menschen vor den Bombenangriffen der Japaner beschützte.
China, 1937: Seit knapp 30 Jahren lebt NSDAP-Mitglied John Rabe (Ulrich Tukur) nun schon mit seiner Frau Dora (Dagmar Manzel) in Nanking und leitet die örtliche Siemens-Fabrik mit deutscher Gründlichkeit. Die Ablösung durch seinen streng linientreuen Nachfolger Werner Fleiss (Mathias Hermann) steht unmittelbar bevor. Eigentlich könnte sich Rabe über seinen Abzug aus China glücklich schätzen, immerhin tobt gerade der chinesisch-japanische Krieg und die Bedrohung durch Bombenangriffe rückt immer näher. Doch Rabe fühlt sich um sein Lebenswerk gebracht. Als japanische Flugzeuge Nanking bombardieren, öffnet er die Fabriktore und gewährt den chinesischen Arbeitern Schutz auf dem Firmengelände. Die Intensität der Angriffe steigt ebenso wie die Aggressivität der japanischen Invasoren von Tag zu Tag. In der gehobenen Gesellschaft der in Nanking lebenden Ausländer genießt Rabe Ansehen, wenn auch nicht bei allen Mitgliedern: Während die französische Schulleiterin Valerie Dupres (Anne Consigny) große Stücke auf ihn hält und auch der jüdische Diplomat Dr. Georg Rosen (Daniel Brühl) den deutschen Geschäftsmann unterstützt, begegnet der amerikanische Klinikchef Dr. Robert Wilson (Steve Buscemi) dem Nazi mit offenem Misstrauen. Um die chinesische Bevölkerung vor den Japanern in Sicherheit zu bringen, richtet die internationale Gemeinschaft eine Schutzzone für die Zivilbevölkerung ein. Die Leitung übernimmt John Rabe, um zu beweisen, dass er sein von Wilson angezweifeltes Engagement tatsächlich ernst meint…
Der Münchner Florian Gallenberger erhielt für „Quiero Ser“ 2001 den Academy Award für den Besten Kurzfilm sowie ein Jahr zuvor den Studenten-Oscar in derselben Kategorie. Damit standen dem jungen Regisseur alle Türen offen. Der folgende Karriereschritt war jedoch einer in die falsche Richtung. Zwar wurde das in Indien gedrehte Liebesdrama Schatten der Zeit 2005 mit zwei Bayerischen Filmpreisen (Bester Erstlingsfilm, Beste Kamera) bedacht, floppte aber an der Kinokasse und wurde von der Kritik mit durchwachsener Resonanz aufgenommen. Mit der 15 Millionen Euro teuren deutschen Großproduktion „John Rabe“ soll nun doch noch der Durchbruch gelingen. Und die Bayern sind erneut auf der Seite ihres Landessohnes. Schon bevor Presse oder Publikum den Film überhaupt zu Gesicht bekamen, wurde er Anfang 2009 in vorauseilendem Gehorsam mit zwei Bayerischen Filmpreisen (für den Besten Film und für den Besten Hauptdarsteller) bedacht.
Wenn Filme aus Deutschland auf internationalem Parkett Beachtung finden, dann fast ausschließlich mit „deutschen Themen“. Das hat sich auch in der jüngeren Vergangenheit mit den Erfolgen von Das Leben der Anderen, Der Untergang, Good Bye, Lenin! oder Der Baader Meinhof Komplex wieder deutlich gezeigt. Dieses Erfolgsrezept bemüht auch Gallenberger, wobei er noch einen zusätzlichen Trumpf im Ärmel hat: Die Geschichte des John Rabe war lange Zeit komplett in Vergessenheit geraten und wurde erst 1996 mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher („John Rabe: Der gute Deutsche von Nanking“ von Erwin Wickert) zumindest in bescheidenem Maße bekannt. Rund 250.000 Chinesen konnten Rabe und seine Mitstreiter in Nanking retten. Doch Rabe war ein Held wider Willen. Und mit dieser Darstellung hat Gallenberger am meisten Probleme, manövriert er seinen Film doch zu oft in die Nähe eines Heldenepos.
Rabe war bekennendes NSDAP-Mitglied und glühender Verehrer Adolf Hitlers. Dies kocht Gallenberger jedoch auf kleiner Flamme. Zwar verschweigt der Filmemacher diese Fakten nicht und baut auch in die Handlung ein, wie Rabe Hitler um Hilfe bittet, den verbündeten Japanern Einhalt zu gewähren, aber dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass er die NS-Bezüge seines Protagonisten herunterspielt. Besonders ungeschickt wird Rabes Gesinnung im Film von Dr. Wilson in Frage gestellt. Regisseur und Autor Gallenberger überzeichnet den US-Arzt als manischen Mahner, dessen übersteigerter Zynismus ihn in die Nähe einer Karikatur bringt. Das allein wäre kein Beinbruch, aber im Gegenzug katapultiert dies die Figur des Rabe in die Nähe eines Heiligen, weil sich die Einwände, die als warnender Zeigefinger der Weltgemeinschaft verstanden werden können, alle abgewehrt werden. Doch so aalglatt war Rabe eben nicht und auch kein Menschenfreund, der sich dazu berufen fühlte, die Chinesen zu beschützen. Rabe galt als pedantischer Pragmatiker mit Hang zu skurrilem Humor. Er wurde vielmehr in die Rolle an der Spitze des Schutzzonen-Komitees gedrängt – wo er dann aber tatsächlich das Richtige tat. Diese Grautöne hätten dem Film wesentlich besser zu Gesicht gestanden, als die Schwarz-Weiß-Zeichnung, mit der er nun auskommt.
Handwerklich muss sich „John Rabe“, der unter schwierigen Bedingungen an chinesischen Originalschauplätzen gedreht wurde, selbst vor namhafter Konkurrenz nicht verstecken. Das Produktionsdesign erreicht auf internationalem Niveau, die Massenszenen sind beeindruckend und die Bilder, die Kameramann Jürgen Jürges (Geliebte Clara, Vom Suchen und Finden der Liebe) einfängt, haben stets leinwandfüllendes Format. Besonders haften bleibt ein symbolhafter Akt, in dem Hunderte von Chinesen unter einer riesigen Hakenkreuzflagge Schutz finden und sich so dem Bombardement der Japaner entziehen. Dazu ist „John Rabe“ durch die Bank ansprechend gespielt. Ulrich Tukur (Das Leben der Anderen, Nordwand) gibt den Hamburger Kaufmann Rabe präzise als Mischung aus jovialem Gutsherren und pragmatischem Organisator mit dem Herz am rechten Fleck, auch wenn Gallenbergers Drehbuch ihm hier und da arg viel Pathos aufdrückt. Ähnlich kontraproduktiv ist die tosende Musikuntermalung – ein filigranerer Score hätte sicherlich mehr Zwischentöne zugelassen.
Neben Tukur gefällt vor allem Steve Buscemi (Fargo, Die Insel, Interview), dessen Figur nur dank seiner überragenden Fähigkeiten nicht zur grotesken Karikatur verkommt. Anne Consigny (Schmetterling und Taucherglocke, Public Enemy - Todestrieb) und Daniel Brühl (Good Bye, Lenin!, Was nützt die Liebe in Gedanken, Die fetten Jahre sind vorbei) ergänzen die schillernden Leistungen der Hauptdarsteller mit soliden Auftritten.
Insgesamt kann sich Florian Gallenbergers „John Rabe“ an internationalen Maßstäben durchaus messen lassen. Der große Wurf bleibt ihm dennoch verwehrt. Neben kleinen Mängeln in der Charakterzeichnung bremst den Film noch eine herzlich überflüssige Love Story zwischen Diplomat Rosen und einer chinesischen Schülerin (Zhang Jingchu), die sich als dramaturgische Krücke entlarvt. Auch fällt die Zeichnung der Japaner als Barbaren arg eindimensional aus. Stark ist „John Rabe“ immer dann, wenn es dramatisch wird, Gallenberger Schauwerte aufbietet und die großen Gefühle ein Äquivalent in den Bildern finden.
Fazit: Der „Oskar Schindler Chinas“, ein „zweiter Schindler“, der „deutsche lebende Buddha“ oder der „Gute Deutsche von Nanking“… so wird Rabe in der amerikanischen bzw. chinesischen Geschichtsschreibung gepriesen. Diese pathetischen Steilvorlagen konnte Florian Gallenberger in seinem Kriegsdrama nicht vollends entschärfen. Aber selbst wenn sich „John Rabe“ nicht mit Steven Spielbergs thematisch vergleichbarem Schindlers Liste messen kann, ist Gallenberger dennoch ein grundsolides Epos gelungen, dessen Stärken die Schwächen überwiegen.