„Vorsicht Sehnung“, der deutsche Verleihtitel von Alain Resnais 2009 in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury bedachten Beziehungsgeschichte, ist wörtlich zu nehmen: Die zwei Hauptfiguren der surrealistisch angehauchten Verfilmung eines Romans von Christian Gailly werden von ihren Sehnsüchten geradezu getrieben und verlieren dabei nach und nach die Kontrolle über ihr Tun. Doch während sie am Ende buchstäblich abheben und Loopings schlagen, lässt sich dies vom Film selbst leider nicht behaupten: Zu schwer wiegt seine aufgesetzte finale Symbolik. Das ist gerade deshalb schade, weil die ersten zwei Drittel schlicht großartig sind.
Marguerite (Sabine Azéma) stammt aus gutbürgerlichem Hause, ist nicht glücklich mit ihrem Leben, um die 50, Zahnärztin, Single und hat keine besonderen Kennzeichen, außer einem: Sie ist Hobby-Pilotin und nur im Cockpit eines Flugzeugs wirklich bei sich selbst. Allerdings ist sie schon lange nicht mehr geflogen. Georges (André Dussollier) ebenfalls gutbürgerlich, auch nicht glücklich mit seinem Leben, Pensionär und mit einer deutlich jüngeren Frau (Anne Consigny) verheiratet. Er hat erwachsene Kinder, die ihn so wenig verstehen wie er sie, ist manchmal neurotisch und unterschwellig aggressiv, besonders gegenüber Frauen. Marguerite wird ihre Brieftasche gestohlen. Georges findet sie und verliebt sich in ein Foto der lachenden Frau auf ihrem Pilotenschein. Er würde gern mit ihr Kontakt aufnehmen, schreckt aber davor zurück und gibt die Brieftasche vorsichtshalber lieber bei der Polizei ab. Doch als sich Marguerite telefonisch bei ihm dafür bedankt, versteht er das als Einladung und sucht gegen ihren erklärten Willen immer aufdringlicher ihre Nähe. Marguerites Gefühle gegenüber dem unbekannten Stalker bleiben uneindeutig. Und eines Abends ist es schließlich sie, die ihm auflauert…
Es ist die Art, in der der inzwischen 87-jährige Alain Resnais diese nicht sonderlich originelle Geschichte erzählt, die den Film in seiner ersten Hälfte so herausragend macht. Während das ausgeklügelte Sounddesign und die leicht surrealistisch gefilmten Szenen Georges‘ unheimliche Seite unterstreichen, bringen absurde Dialoge und eine ironische Erzählstimme – Elemente, die Resnais größtenteils wörtlich aus Gaillys Roman übernommen hat – eine Leichtigkeit in den Film, die für spannende inszenatorische Reibungsmomente sorgt. Dazu kommt der Soundtrack von Mark Snow, der sich unterschiedlichster Musikstile bedient, ohne dabei je aufgesetzt oder gar überfrachtet zu wirken. In fast schwereloser Erzählweise entfaltet sich das Bild eines Mannes, der sich in seinem Wahnsinn (?) nicht so einfach kategorisieren lässt. Ist er nur kauzig oder schon gefährlich? Ist er schwer neurotisch oder in seinen alltäglichen Ängsten und Hemmungen einer wie du und ich? Und nicht zuletzt: Was von dem, was der Zuschauer sieht, geschieht in der realen Welt des Films und was spielt sich in Georges‘ Kopf ab? Resnais hält hier auf faszinierende Weise die Waage und macht Georges so zu einer sehr widersprüchlichen Identifikationsfigur.
Auch die Nebenfiguren sind skurril – und zwar nicht auf eine alberne, sondern auf eine interessante Art (hervorzuheben ist hier insbesondere Bond-Bösewicht Mathieu Amalric in einer glänzend-komischen Rolle als Polizist). Nur Georges Frau bleibt eine blasse Figur, was nicht der wunderbaren Anne Consigny anzulasten ist, sondern allein dem Drehbuch. Dieses leistet in der zweiten Hälfte einen Perspektivwechsel mehr zu Marguerite hin, die sich selbst auf eine seltsame Weise zu dem Stalker Georges hingezogen fühlt. Ihre Widersprüchlichkeiten werden ebenfalls beeindruckend ausgestellt, und Sabine Azémas zurückgenommenes Schauspiel wirkt äußerst intensiv.
Am Ende reizt der Film die aufgebaute Spannung zwar nicht aus, er lässt sie aber auch nicht quälend im Raum stehen. Stattdessen lässt er sie einfach verpuffen. Praktisch jede der aufgeworfenen Fragen bleibt auf der Handlungsebene unbeantwortet. Auch gelingt es Resnais nicht, das surrealistisch-bedrohliche Moment so weit zu steigern, dass es den Zuschauer auch ohne Beantwortung der offenen Fragen bis zum Abspann packen würde. Vielmehr wirken die finalen Szenen angeklatscht und kokettieren zudem recht aufdringlich mit ihrer Uneindeutigkeit und ihrem überhöhten Symbolcharakter. Auch ärgern kann man sich über überflüssige Albernheiten wie einen Abspann vor dem Abspann oder küchenpsychologische Halb(un)wahrheiten wie die folgende: „Frauen sind wie Katzen, …“