Das Liebesleben des homo sapiens bietet wohl den Grundstoff dessen, was seit jeher in Dichtung und Kunst, selbstredend auch abseits davon, die Phantasie des Menschen am meisten bewegt und angeregt hat. In der epischen Ausformung des Stoffes haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Grundmuster entwickelt, die die Komplikationen rund um die schönste Sache der Welt in besonders schönem, dramatischem Licht erscheinen lassen. Die Wahl des Liebespartners und das offene Bekenntnis zu diesem stellen dabei den Normalfall, der dramaturgisch kaum auszuschlachten ist. Dem gegenüber steht das Schweigen, die blinden Flecke in den Lebensgeschichten. Schon die Gesetze der Physik besagen aber, dass im Kosmos nichts ohne Auswirkung bleiben kann, nichts aus dem System verschwinden kann, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Energieerhaltungssatz wirkt also auch im zwischenmenschlichen Bereich. Im Regiedebüt „Liebesleben“ von Maria Schrader sind ebensolche Gesetze am Werk. Jede Aktion, jede Entscheidung, die im Laufe eines Lebens getroffen wird, erfordert in diesem Drama eine Reaktion, auch wenn diese erst eine Generation später ans Tageslicht gerät.
Eigentlich beginnt „Liebesleben“ mit einem sehr idyllischen Bild. Jara (Netta Garti) bereitet anlässlich des Geburtstages ihres Vaters Leon (Stephen Singer) ein Picknick im Freien vor. Doch es kommt Wind auf, der das ganze, schön hergerichtete Ensemble durcheinander bringt. Mit diesem Windstoß ist Arie (Rade Sherbedgia) nach Jerusalem zurückgekehrt, das er für 30 Jahre verlassen hatte. Dieser überrascht Jara, als diese voller Sorge zu ihren Eltern eilt. Zuvor war Jaras Leben recht in Ordnung. Glücklich mit Joni (Ishai Golan) verheiratet, hat Jara gute Aussichten auf eine baldige Anstellung an der Universität. Doch schon die erste Begegnung mit Arie wirft Jara aus der Bahn. In den darauf folgenden Treffen entwickelt sich aus den zunächst erotisch aufgeladenen Situationen eine handfeste Affäre. Allerdings scheint Arie mit den Gefühlen nicht so richtig bei der Sache zu sein und ist nur an Sex interessiert. Obwohl Jara damit ihre Schwierigkeiten hat, übt Arie einen großen Reiz auf sie aus. Für ihn vernachlässigt sie ihre Familie, ihren Mann und die Universität. Als sie herausfindet, dass hinter Arie weit mehr zu stecken scheint, als lediglich ein alter Freund der Familie, beginnt die Sache richtig kompliziert zu werden…
Im Film „Liebesleben“ adaptiert Maria Schrader den gleichnamigen Roman von Zeruya Shalev, der zum Bestseller geworden ist und vom Feuilleton durchweg gelobt wurde. Bei der Übersetzung vom einen Medium in das andere, war es der Regisseurin besonders wichtig, eine eigene filmische Sprache für das Romangeschehen zu finden, das sich dem gegenüber behaupten kann. Dabei gibt es prinzipiell Übersetzungsprobleme. Bestimmte narrative Strukturen des geschriebenen Textes, die gerade im Fall des Romans „Liebesleben“ von besonderer Bedeutung für den Erfolg waren, lassen sich nicht ohne weiteres übernehmen. Jara, auch im Roman die Hauptfigur, erzählt dort in der Ich-Perspektive, wodurch eine intime Nähe zum Leser erzeugt wird, der wiederum genau über das Innenleben der Figur Bescheid weiß. In Filmen erscheint diese Erzählhaltung, wenn überhaupt, da es keine besonders beliebte Art und Weise ist, im Film von Dingen zu erzählen, als Off-Kommentar. Auf diesen verzichtet Schrader ganz bewusst. Für den Film ergibt sich damit die Schwierigkeit, dass dem Zuschauer die Heldin auf irgendeine andere Art näher gebracht werden müsste. Allerdings bleibt Schrader bei der Entwicklung einer eigenständigen Filmsprache hinter dem zurück, was das Medium Film an Mitteln bereitstellt.
Damit hängt im Grunde genommen alles an den Schauspielern, und auch hier im Besonderen an der Hauptdarstellerin Netta Garti. Diese trat während den Dreharbeiten zusätzlich in einer Hamlet-Inszenierung in Tel Aviv als Ophelia auf. Sowohl im shakespeareschen Drama als auch in ihrer Rolle im Film, spielte sie infolgedessen eine Frauenfigur, die von dem dominanten männlichen Gegenpart zurückgewiesen wird. Und obwohl im Falle Gartis, wie auch bei der restlichen Besetzung, mit untadeliger Schauspielkunst gerechnet werden kann, gelingt es im Film doch nicht zur Gänze, dem Zuschauer eine Einsicht in die Protagonistin zu gewähren. Die Motivation für ihr Handeln, das sowohl mit einer speziellen Form des Masochismus, als auch mit bloßer Neugierde zu begründen wäre, bleibt nebulös. Im Roman erscheint Jara als intelligente Person, die sich jederzeit darüber im Klaren ist, was um sie herum geschieht, und welche Konsequenzen ihr Handeln nach sich zieht. Dass dieses Element im Film fehlt, kommt diesem letztlich ein stückweit zugute. Denn der Spannungsbogen könnte ohne das ungewisse Moment im Handeln der Heldin nicht aufrecht erhalten bleiben. Viel zu viel wird sehr früh angedeutet und erschließt sich dem Zuschauer innerhalb der ersten halben Stunde und erscheint im erwartungsgemäßen Fortgang konstruiert.
Sowohl die Autorin des Romans als auch die Filmemacher betonen, dass die Geschichte von „Liebesleben“ universell sei, und dass gerade aktuelle politische Themen Israels keine Rolle spielen sollten. Ersterem ist durchaus zuzustimmen, wohingegen das letztgenannte mehr als nur latent eine Rolle spielt. Zum einen hat Jara unheimliche Angst, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die permanente Gefahr, einem Bombenattentat zum Opfer zu fallen, ist immens und führt sogar dazu, dass sie das bisweilen für sie unerträgliche Zusammensein mit Arie eher aushält, als mit dem Bus wegzufahren. Doch unabhängig von den konkreten Situationen, die die Realität nicht ausblenden können und auch nicht wollen, ist der Film, auf einer abstrakten Ebene von politischen Fragestellungen durchdrungen. Jara lebt in einem Land, in dem die patriarchalen Familienbande noch enger geknüpft sind als beispielsweise hierzulande. Das hatte zum einen die ganz pragmatische Folge, den Drehort wie im Roman in Israel zu belassen, da hier die enge Bindung Jaras zu ihrer Familie glaubwürdiger erscheint, als das zum Beispiel in Deutschland der Fall wäre. Zum anderen bekommt der Film dadurch aber in politischer Hinsicht eine ganz andere Sprengkraft. Den Weg, den Jara bestreitet ist der, den die emanzipatorische Bewegung seit den späten 60er Jahren gegangen ist. Jara löst sich nach und nach immer mehr von ihren männlichen Bezugspersonen und lernt für sich selbst einzustehen, egal welche schwerwiegenden Folgen das auch nach sich ziehen mag.
Die Autorin selbst kommentiert lakonisch: „Wenn jemand etwas über die israelische Politik erfahren will, sollte er die Zeitung lesen.“ Mit diesem Ausspruch hat Zeruya Shalev bestimmt nicht ganz Unrecht, jedoch muss man nicht unbedingt das tagespolitische Geschehen in einen Film integrieren, um politisch zu sein! Was in diesem Zusammenhang ebenfalls ein nicht zu vernachlässigender interessanter Aspekt des Filmprojektes ist, betrifft die Entscheidung, den Film auf Englisch und nicht etwa auf Hebräisch zu drehen. Hauptgrund sei die fehlende Sprachkenntnis gewesen, was es schwierig gemacht hätte, sich in die stark nuancierten Szenen des Drehbuchs beim Dreh richtig einzufühlen. Das Skript erfuhr im Vergleich zur Romanvorlage ohnehin starke Beschneidungen und Änderungen. Die Arbeitsweise der Regisseurin Maria Schrader, die sehr intuitiv, offen und spontan arbeitet, wodurch viele Einstellungen erst direkt vor Ort entstanden, tat das restliche bei, einen Film entstehen zu lassen, dessen Authentizität, die am Drehort Israel entstehen sollte, peu à peu wieder abgetragen wurde. Durch die vielen kleinen Entscheidungen kam letzten Endes ein sehr europäisches Produkt heraus, das ohne Frage durch die Aufnahmen der ungewöhnlichen israelischen Landschaft und Jerusalems für Abwechslung sorgt. Die Frage jedoch, an der alles steht und fällt, ist freilich die, wer als Zielpublikum ins Auge gefasst wurde.
Der „universelle“ Teil der Geschichte funktioniert hier wie dort. Die anderen Akzente, die gesetzt wurden, zielen jedoch weniger auf das, sich selbst schon als aufgeklärt und emanzipiert verstehende, westliche Publikum. Da das Genre des Liebesdramas sehr viele Facetten bereithält, die unterschiedlich stark gewichtet werden können, lohnt es sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen, zu welchen Gunsten entschieden wurde. Unverzüglich erscheinen die zwei Themen Sexualität und das Erbe eines alten Familienkonflikts, das auf Jara fällt. Die Mischung, die sich daraus ergibt, kann man als Kreuzung aus Der letzte Tango in Paris und ein bisschen Familiendrama à la „Buddenbrooks“ beschreiben. Und obwohl diese beiden zu Recht ihre Position in der Filmgeschichte haben, ist ihre gesellschaftliche Schlagkraft, die stärker an den Sachgehalt gebunden ist, Geschichte. Der Versuch einer Aktualisierung dieser Problematik, der zudem in der jüdisch-israelischen Vergangenheit verortet ist, mag sowohl wünschens- wie lobenswert sein. Gerade die emanzipatorische und die befreierische Haltung Jaras sind aktuelle Themen des Landes. „Liebesleben“ führt diesen Schritt jedoch nicht mit der letztlich nötigen Konsequenz aus, um an richtiger Stelle wirksam zu werden.