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    Milk
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Milk
    Von Jan Hamm

    Im November 1978 wurde der US-Politiker Harvey Milk von seinem Freund und Kollegen Dan White erschossen. Milk war der erste Homosexuelle, der in ein relevantes Polit-Amt gewählt wurde. Seine Bedeutung für die „Gay Rights“-Bewegung wird mit der Martin Luther Kings für den Aufbruch der Afroamerikaner verglichen – und das nicht bloß, weil beide als Märtyrer starben. Welch böse Ironie, dass ausgerechnet Rick Warren, ein strikter Gegner der Homo-Ehe, das Vaterunser zum Amtsantritt von Barack Obama sprach. Das schwarze Amerika hat einen gewaltigen Schritt vorwärts getan, das homosexuelle derweil kann davon nur träumen. Mit seinem dokumentarisch anmutenden Biopic „Milk“ errichtet Oscar-Preisträger Gus Van Sant (Elephant, Good Will Hunting) dem tragischen Helden der Schwulenbewegung ein würdiges Denkmal. Anders als vor ihm Ang Lee (Brokeback Mountain) zeichnet er ein nicht nur erschreckendes, sondern ebenso hoffnungsvolles Bild einer Gesellschaft im Kampf um ihre Ideale, das keineswegs als bloße Retrospektive zu verstehen ist. Der Fokus liegt dabei auf dem politischen Wirken Milks (1970-1978), die prägenden Erfahrungen vor dem späten Coming Out bleiben außen vor. So fehlt dem Film als Porträt dann zwar der Feinschliff, als kraftvolles und empathisches Toleranz-Plädoyer ist „Milk“ dennoch überragend. Und das nicht zuletzt dank eines berauschenden Sean Penn, dem es in der Hauptrolle spielend gelingt, einen neuen Karrieregipfel zu erklimmen.

    „All men are created equal!” So steht es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Realität, mit der sich Harvey Milk (Sean Penn, Mystic River, Dead Man Walking) konfrontiert sieht, ist eine andere. Anfang der 70er Jahre zieht er mit seinem Freund Scott Smith (James Franco, Spider-Man, Flyboys) nach San Francisco und eröffnet im Castro-Viertel einen Fotoshop. Als Reaktion auf die homophoben Anfeindungen seiner Umgebung geht Milk zunehmend offensiv mit seiner Sexualität um. Sein Laden wird zum Szenelokal, das Viertel zur Hochburg der zaghaft erwachenden Schwulenbewegung. Schrittweise mehr Verantwortung für seine Community übernehmend, wird ihm klar, dass er in die Politik gehen muss, wenn er etwas bewegen will. Mit Mut, Geduld und der Hilfe seiner Mitstreiter (Emile Hirsch, Into The Wild, Alison Pill, Pieces Of April) bewirbt er sich für das städtische Amt des Supervisors – und wird nach mehreren Anläufen gewählt. Milk gewinnt an Selbstverstrauen und trägt den Kampf um die Bürgerrechte Homosexueller über die Stadtgrenzen hinaus. Doch im Schatten seines Erfolges erwächst eine fatale Rivalität mit Amtskollege Dan White (Josh Brolin, No Country For Old Men, W.), der eines Tages mit blankliegenden Nerven und geladener Waffe im Rathaus aufkreuzt...

    Kurz vor seinem Tod nahm Milk, der sich der allgemeinen Gefahr eines Attentats bewusst war, ein Diktiergerät zur Hand und zeichnete seine Geschichte auf. Eine bessere Quelle kann sich ein Filmemacher nicht wünschen. Folgerichtig greift Van Sant diesen Umstand als narrativen Rahmen auf. Der Konstruktion eines Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford nicht unähnlich, wird Milks Ende bereits zu Beginn vorweggenommen, und stellt die folgenden zwei Stunden damit in den Kontext seines Todes. Ein geschickter Schachzug, denn so gelingt „Milk“ die Gratwanderung zwischen Schicksalhaftigkeit und hoffnungsvoller Euphorie. Schon früh erhält Milk eine Morddrohung in Form infantil auf Papier gekritzelter Verstümmelungsbilder. Scott will das Papier wegwerfen, doch sein ambitionierter Partner hängt es gut sichtbar am Kühlschrank auf. Sein Kampf soll offen sein, von Angst will er sich nicht leiten lassen. Der panische Schulterblick in den nächtlichen Straßen San Franciscos wiederum spricht eine andere Sprache.

    In solchen Momenten kommt Van Sant seinem Protagonisten ganz nahe. Mit rhythmischem Gespür werden derart intime Augenblicke mit Archivmaterial und körnigen, dokumentarisch wirkenden Massenszenen verknüpft. Chronologisch durch die Etappen von Milks Politkarriere schreitend, wechselt Van Sant virtuos zwischen Mikro- und Makrokosmos und erzählt so über den Lebensweg eines Mannes die Geschichte einer ganzen Gesellschaft. Der Blick auf die Schwulenszene fällt dabei keineswegs romantisierend aus. Ohne falsche Scheu wird die Promiskuität homosexueller Verhältnisse aufgegriffen. Doch stellt „Milk“ diese Schnelllebigkeit stets in den Kontext der 68er Generation (untrüglich durch Penn mit Mähne, Vollbart und Schlaghosen impersonifiziert), in eine Zeit vor HIV und Aids, und verleiht dem lustvollen Treiben damit eine Aura der Unschuld.

    So locker sehen und sahen es die Konservativen allerdings nicht. Es ist Van Sant hoch anzurechnen, dass er die Opposition nicht dämonisiert. Deren ständige Verweise auf Gottes Unwillen gegenüber homosexuellen Paaren wirken aus aufgeklärter Perspektive zwar reichlich albern, gerade Dan White spricht der Film aber ein erstaunlich ambivalentes Wesen zu. Auf Basis des starken Drehbuches bekommt der einmal mehr großartige Josh Brolin den Freiraum, White als zugewandten aber gebrochenen Mann darzustellen, der in Milk schließlich einen Sündenbock für das Desaster seines eigenen Lebens findet.

    Über diesen Qualitäten thront das oscarreife Spiel Sean Penns, der gänzlich in seiner Rolle aufgeht. Sein untrügliches Gespür für anspruchsvolle Stoffe muss der Darsteller und Regisseur längst nicht mehr unter Beweis stellen. Und doch überbietet er sich hier einmal mehr selbst. Sein Harvey Milk strahlt einen Sanftmut aus, der schwer in Worte zu fassen ist. Penn spielt die Figur nicht, er lebt sie. Hoffnung und Mut, aber auch Angst und Verzweifelung, all das transportiert er mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, die bedingungslose Sympathie für den tragischen Helden unausweichlich macht. Und obgleich Milk sich nie als solchen begriffen hat – für die amerikanische Schwulenbewegung ist er genau das.

    Wenn Van Sant mit seinem Privat- und Gesellschaftsporträt überhaupt etwas versäumt, dann den Blick in Milks Vergangenheit. Immerhin war dieser bereits in seinen Vierzigern, als sich seine politischen Ambitionen herauskristallisierten. Der Courage, nicht nur zu seiner Sexualität zu stehen, sondern auch für Toleranz und Gleichberechtigung aufzustehen, ging eine lange Zeit der Orientierungslosigkeit voraus, die Van Sant lediglich andeutet. Bei all der Emotionalität und Energie, die „Milk“ entfesselt, fällt diese Schwäche im Detail aber kaum ins Gewicht. Auf ein deutsches Publikum, das dank Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Ole von Beust mit Karrieren homosexueller Männer vertraut ist, mag der Appellcharakter des Films weniger dringlich als in den Staaten wirken. Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz schwuler Partnerschaften steht allerdings auch hierzulande noch aus. Damit ist „Milk“ nicht nur ergreifendes Kino, sondern ebenso eine Erinnerung an das fundamentale Toleranzversprechen, auf dem die westlichen Demokratien aufbauen.

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