Anders als im Westen ist der Zeichentrickfilm in Japan essentieller Bestandteil der Kinokultur und steht dabei keineswegs immer für leichte Kost. Hochphilosophische Meisterwerke à la Ghost In The Shell verweisen in puncto Anspruch selbst viele der klügeren Hollywood-Produktionen auf die hinteren Ränge und Serien wie „Neon Genesis Evangelion“ erfahren gar eine kultische Verehrung, wie wir sie höchstens vom „Star Wars“-Franchise her kennen. Mit George Lucas’ Weltraumsaga hat „Evangelion“ noch etwas anderes gemein: Die Kuh wird gemolken, was das Zeug hält. Abgesehen von der ausufernden Merchandise-Industrie hat die enorm erfolgreiche Serie mit „Death & Rebirth“ und „End Of Evangelion“ bereits zwei Leinwand-Adaptionen nach sich gezogen und wird gerade in sage und schreibe vier Filmen erneut ins Kino gewuchtet. Den Anfang macht „You Are (Not) Alone“, der in Japan bislang den erfolgreichsten DVD-Start 2008 für sich verbuchen kann. Im Vergleich zur alten Fassung wurden ein paar Szenen hinzugefügt und ein paar Effekte digital ausgebessert. Klingt bekannt und erinnert einmal mehr an Krieg der Sterne und die Special Edition der alten Trilogie.
Hier hört die Vergleichbarkeit aber auch auf, denn Evangelion ist kein einfaches Märchen, sondern ein Epos, berstend voll mit vielschichtigem Subtext und metaphorischer Gewalt. Zu den zahlreichen Einflüssen gehören unter anderem die jüdische Mythologie und apokryphe Schriften, eine Aufarbeitung des andauernden Hiroshima-Traumas und die Psychoanalyse Siegmund Freuds. Die letzten Episoden der Serie waren derart introspektiv und surreal, dass sie einen Großteil des Publikums überforderten und sich problemlos mit der Abstraktionsakrobatik eines David Lynch messen lassen können. „End Of Evangelion“ lieferte auf Wunsch vieler Zuschauer ein actionreicheres und greifbareres Alternativ-Ende nach, das wiederum auch als physische Kehrseite des metaphysischen TV-Finales lesbar ist. Was steht jetzt also hinter „Rebuild Of Evangelion“? Fan-Ausbeute, plausible Neuinterpretation oder möglicherweise endlich eine einsteigerfreundliche Variante des Anime-Kolosses? Irgendwie etwas von allem. Aber der Reihe nach...
Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Im Jahr 2000 haben Forscher in der Antarktis eine gigantische Kreatur entdeckt, die in Anlehnung an die Apokalypse der Qumran-Schriften Adam, der erste Engel, getauft wird. Doch als Adam erweckt werden soll, zerstört er sich selbst und löst eine Schmelze des Polareises aus. In der folgenden globalen Katastrophe wird rund die Hälfte der Menschheit ausgelöscht, die Machtzentren der alten Welt versinken in den Fluten. Nexus der politischen und militärischen Gewalt ist von nun an das neu errichtete Tokio-III, der Öffentlichkeit wird das Desaster in Anlehnung an die Auslöschung der Dinosaurier als Second Impact verkauft. Im Jahr 2015 wird die Stadt vom inzwischen vierten Engel angegriffen. Die Organisation NERV unter der Führung von Gendo Ikari hat derweil in einem gewagten Experiment Kampfmaschinen zur Gegenwehr entwickelt: die EVAs, Hybriden aus High-Tech und dem Gen-Material Adams. Gendo ruft seinen Sohn Shinji nach Tokio-III, um EVA-001 zu steuern und den Angriff des vierten Engels abzuwehren. Getrieben von der Sehnsucht nach der Anerkennung seines Vaters willigt er ein und besteht seine Feuertaufe mit mehr Glück als Verstand. Doch der Sieg bringt ihm keine Befriedigung. Gendo bleibt distanziert und Shinji, der inzwischen bei der NERV-Mitarbeiterin Misato Katsuragi untergekommen ist und EVA-001 weiterhin übernehmen soll, droht, an der Verantwortung und seiner zunehmenden Isolation zu zerbrechen...
Dieser kurze Einblick reicht gerade eben aus, um „You Are (Not) Alone“ ansatzweise zu verstehen. Der Film eröffnet mit der Ankunft Shinjis in Tokio-III, die komplexe Vorgeschichte und die soziale Konstellation der vielen Charaktere werden erst im Verlauf der Handlung schrittweise aufgehellt. Denn „You Are (Not) Alone“ ist natürlich nur der Auftakt zur Neuauflage, deren Erzählstruktur auch die kommenden drei Folgen mit einschließt. Der Film fungiert als kompakte Variante der ersten sechs Originalepisoden à 25 Minuten. Das Problem dabei ist offenkundig: Im Vergleich zur TV-Fassung fehlt knapp eine Stunde Material, in denen Charakterisierungen und Hintergrundinformationen geliefert werden. Die Straffung gestaltet die Geschichte geringfügig zugänglicher, alleine schon, weil der Informationshagel sich ein wenig lichtet. Allerdings wird damit auch ein Teil des Tiefganges eingebüßt, der die Urfassung ausgezeichnet hat. Die versuchte sich erfolgreich am Balanceakt, gleichzeitig Alltagsleben mit humorvollen Einlagen und ein postapokalyptisches Szenario zu schildern, und zeichnete so ausgefeilte Charakterbilder. In der komprimierten Neufassung gerät das Gleichgewicht geringfügig aus dem Lot, da die gegensätzlichen Stimmungsbilder so unmittelbar aufeinander folgen.
Wie und ob sich die ausgebauten Handlungsstränge (beispielsweise um den mysteriösen Kaworu Nagisa, der im Schlussakt auf dem Mond erwacht) auszahlen, wird erst im Gesamtkontext ersichtlich werden. Der Film wirft ohnehin weit mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was es mit der apathischen Rei, der Pilotin des Prototypen EVA-00, auf sich hat, worin ihr nebulöses Verhältnis zu Gendo besteht, woraus die pathologische Distanz zwischen Shinji und seinem Vater entspringt und weshalb in den Tiefen unter dem NERV-Hauptquartier der Engel Lilith liegt – auf all das wird noch lange keine Antwort in Aussicht gestellt. Wer sich aber mit der vorerst fragmentarischen Erzählung abfinden kann, bekommt mit „You Are (Not) Alone“ die Anime-Vollbedienung. Der Zeichentrickstil und seine Umsetzung sind vom Feinsten, die Actionsequenzen von ungeheurem Bombast und die neu eingefügten CGI-Einstellungen fügen sich organisch ein. Auch ohne die Möglichkeit, den monolithischen Plot in seiner Gänze zu begreifen, ist die biblische Wucht, mit der „Evangelion“ aufgeladen ist, bereits jetzt spürbar.
Fazit: „You Are (Not) Alone“ ist ein komplizierter Fall. Einerseits wird die Handlung konsumierbarer gestaltet, andererseits gehen Teile der ausgefeilten Charakterpsychologie verloren. Und letzten Endes wird die Geschichte erst als Gesamtwerk stimmig beurteilbar sein. Fans bekommen eine behutsam umarrangierte Neufassung geboten, interessierte Neueinsteiger haben die Gelegenheit, das Epos mit einer kompakten Exposition anzutesten. Ob die Neuauflage als Ganzes notwendig ist, bleibt streitbar, denn immerhin liegt mit „Neon Genesis Evangelion“ bereits ein abgeschlossener, moderner Mythos vor. Doch Daseinsberechtigung hin oder her – George Lucas (und mit ihm ganz Hollywood) täte gut daran, mit den Japanern nicht nur in puncto Vermarktungsgeschick, sondern auch in Sachen Qualität gleichzuziehen.