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    Jack Ketchum's Evil
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Jack Ketchum's Evil
    Von Björn Helbig

    Es gibt keinen Film, der den Titel „Evil“ mehr verdient hätte als die Adaption von Jack Ketchums Horrorroman. Basierend auf wahren Ereignissen, zeigt er die Torturen, welche die 16-jährige Meg im Haus ihrer Gastmutter erleiden muss. „Jack Ketchum’s Evil“ ist kein Unterhaltungsfilm, sondern ein schwer verdauliches filmisches Mahnmal.

    Ein Sommer in einer amerikanischen Vorstadt im Jahre 1958: Der 12 Jahre alte David (Daniel Manche) ist fasziniert von den zwei neuen Bewohnerinnen seines Nachbarhauses. Bei Ruth Chandler (Blanche Baker) und ihren drei Söhnen Willie (Graham Patrick Martin), Donny (Benjamin Ross Kaplan) und Ralphie (Austin Williams) ziehen die 16jährige Megan Loughlin und ihre jüngere Schwester Susan (Madeline Taylor) ein. Deren Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Ruth hat die beiden in ihre Obhut genommen. David freundet sich schnell mit Meg an. Doch nach und nach kommt Ruths Hass auf alles Weibliche zum Vorschein und sie findet immer öfter einen Vorwand, um den Schwestern das Leben schwer zu machen und sie zu bestrafen.

    „You think you know about pain? Talk to my second wife. When she was nineteen she got between a couple of fighting cats, and one of them went at her, climbed her like a tree, tore gashes out of her thighs and breasts and belly that you can still see today. She got thirty stitches and a fever that lasted for days. My second wife says that's pain. She doesn't know shit, that woman.“ (David)

    Der Film basiert auf einem Verbrechen, das 1965 in Illinois geschah. Dieselben Ereignisse, die auch in dem Film An American Crime verarbeitet wurden, benutzte der Autor Jack Ketchum („The Lost“, „Red“) für seinen über alle Maßen verstörenden Roman „The Girl Next Door“ (1989). Jack Ketchum, das Pseudonym des US-amerikanischen Schriftstellers Dallas Mayr, ist ein Kunstwort, das auf die Jack Ketch genannten Henker im mittelalterlichen England anspielt. Wie die Delinquenten damals, nehmen auch die Figuren in den Romanen des Schriftstellers kein glückliches Ende. Dennoch würde es viel zu kurz greifen, seine literarische Umsetzung des Falls „Sylvia Marie Likens“ lediglich als Horrorroman bzw. Werk der abseitigen Unterhaltungsliteratur zu sehen. Der Detailtreue, der stimmigen psychologischen Interpretation und nicht zuletzt der Konsequenz des Romans merkt der Leser sehr schnell an, dass sich Ketchum genauestes mit den realen Geschehnissen auseinandergesetzt hat.

    Die Gefahr ist sicherlich groß, den sensiblen Stoff für ein Suspensestück zu missbrauchen. Der noch recht unerfahrene Regisseur Gregory Wilson („Home Invaders”) und die Drehbuchautoren Daniel Farrands („The Tooth Fairy“) und Philip Nutman („Shiver“) gehen das Thema mit dem größtmöglichen Respekt an und halten sich sehr eng an Ketchums Vorlage. Im Vergleich zum Buch lässt der Film lediglich ein paar Grausamkeiten aus. Doch die Andeutungen und die wenigen expliziten Szenen reichen schon vollkommen aus, um absolut verstörend zu wirken.

    Im direkten Vergleich mit „An American Crime“ gelingt es „Jack Ketchum’s Evil“ in vielerlei Hinsicht besser, den Zuschauern ein Bild der Geschehnisse zu vermitteln. Das beginnt damit, dass es die Autoren Daniel Farrands und Philip Nutman fertig bringen zu zeigen, wie die verhängnisvolle Situation entsteht, wie sie sich für die Kinder, voran natürlich dem Erzähler David, sexuell auflädt und wie Ruth schließlich alles auf eine neue Stufe hebt. Die Kinder beobachten Meg durchs Fenster und träumen davon, sie in ihr „Spiel“ zu integrieren. Das Spiel – eine Art Verstecken mit anschließender Bestrafung, das ist in der Romanvorlage noch genauer erläutert – ist die erste Erfahrung der Kinder, Macht über andere auszuüben. Im Buch wie im Film wird sehr gut nachgezeichnet, wie durch Ruths Autorität, ihr Frauenbild und ihrem Verhalten gegenüber den Mädchen, nach und nach eine Atmosphäre entsteht, welche die späteren Ereignisse im Keller, wenn auch nicht erklären, so doch ein Stück plausibler machen, als es in „An American Crime“ der Fall ist. Lediglich schauspielerisch hat O'Havers Film gelegentlich die Nase vorn. Wenngleich auch die Performance von Blanche Baker (Der City Hai) als Ruth lobend erwähnt werden muss. Ruth ist die absolute und unhintergehbare Autoritätsperson im Hause Chandler, was man dank Blanche Baker zu jeder Zeit glaubt. Das Wechselspiel aus ihren Belohnungen und Bestrafungen sind der Nährboden für das immer aggressivere Verhalten ihrer Kinder.

    Dass einem die Geschichte in diesem Film so nahe geht, näher noch als im authentischeren „An American Crime“, liegt nicht nur an Blythe Auffarth – die 1985 in Pleasant Valley, New York, geborenen Schauspielerin ist zwar keine Ellen Page, doch es gelingt ihr, die von Sylvia Likens durchlebten Schrecken glaubhaft zu vermitteln – sondern natürlich auch an dem Kunstgriff, den Protagonisten David zum Beobachter und Mittäter zu machen. In Tommy O'Havers Umsetzung gab es keine Identifikationsfigur, das Geschehen blieb dem Zuschauer fremd. In „Jack Ketchum’s Evil“ erleben wir die Geschichte durch Davids Augen, der lange Zeit mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu das Treiben im Keller verfolgt. David hat nicht die Kraft auszubrechen. Er lässt sich von Ruth genau wie die anderen in das Verbrechen verwickeln. Ist Davids Verhalten unplausibel? Der Film drängt dem Zuschauer unangenehme Fragen auf – wäre man selbst wohlmöglich mit der gepeinigten Seele Meg viel früher aus der Hölle ausgebrochen? – und zwingt ihn, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen. Auch in dieser Hinsicht ist Gregory Wilson Film Tommy O'Havers Version überlegen.

    Dass in „Jack Ketchum’s Evil“ die Nachbarskinder im Vergleich zur Romanvorlage eine viel kleinere Rolle spielen, ist schade, aber noch zu verschmerzen. Warum auf das sehr pointierte Ende, welches zusätzliche Fragen aufwirft, verzichtet wurde, gibt allerdings Rätsel auf. Am Schluss, das wird klar, möchte Gregory Wilson den Zuschauer aus seinem ansonsten unendlich deprimierenden Film doch noch mit einer Spur Hoffnung entlassen. „The past catches up to you, whether you like it or not. It can be a gift or a curse if you let it. I will never forget the gift of Meg Loughlin, though I am plagued with the torment of failing again, failing somebody. But as she taught me, it's what you do last that counts“, lässt er den erwachsenen David sagen - ein verbales Trostpflaster, das allerdings nur einen unzureichenden Teil der Wunde bedeckt.

    Fazit: „Jack Ketchum’s Evil“ ist ein verstörender Trip in menschliche Abgründe. Starke Nerven erforderlich!

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