Es gibt sie noch – die kleinen Filme, die großes Kino sind. Das Filmgeschäft ist letzten Endes ein Business wie jedes andere auch. Man stellt ein Produkt her und versucht dieses mit größtmöglichem Gewinn zu verkaufen. Es gilt, auf dem Markt, der fast von Beginn der Filmgeschichte an ein internationaler ist, sichtbar zu werden. Der dabei wachsende Druck auf die Produzenten und die Lichtspielhäuser hat zur Folge, dass die großen Produktionen hauptsächlich die Wahrnehmung bestimmen. Think big. Der Debütfilm „Jagdhunde“ von Regisseurin Ann-Kristin Reyels ist einer der Filme, die erst gar nicht mit dem Anspruch auftreten, mit den Großproduktionen mithalten zu wollen. Eigentlich ist „Jagdhunde“ der Abschlussfilm der Regisseurin, die seit 2001 an der Filmhochschule HFF Konrad Wolf studiert hat. In diesem Jahr wurde die Tragikomödie auf der Berlinale uraufgeführt und erhielt den FIBRESCI Preis innerhalb des Internationalen Forums des jungen Films. Seither war das Werk bei mehreren Festivals eingeladen und kann mehrfach Auszeichnungen für sich verzeichnen, darunter auch den Filmkunstpreis des Festivals des deutschen Films Ludwigshafen. „Jagdhunde“ weiß vor allem durch saubere handwerkliche Leistung, hervorragende Besetzung und eine reife, poetische Bildsprache zu überzeugen.
Henrik (Josef Hader) wohnt mit seinem Sohn Lars (Constantin von Jascheroff) in einem kleinen Dorf in der Uckermark. Hier soll, in Form eines Hochzeitshotels, in das die Scheune ihres Hauses verwandelt werden soll, die neue Grundlage für ihre Existenz errichtet werden. Dem Versuch sesshaft zu werden, steht allerdings entgegen, dass keiner der übrigen Dorfbewohner auch nur ein einziges Wort mit den Fremden wechselt. Zum Umzug aufs Land bewog Henrik die Trennung von seiner Frau Brigitte (Ulrike Krumbiegel), die in Berlin zurück geblieben ist. Dorthin soll Sohn Lars über das Weihnachtsfest fahren. Als er jedoch am Bahnhof auf den Zug wartet, begegnet er der taubstummen Marie (Luise Berndt), die die Tochter des Besitzers einer kleinen Imbissbude ist. Wegen den Umständen der ersten Begegnung mit Marie – er „rettet“ sie vor zwei halbstarken Jugendlichen – verpasst Lars seinen Zug nach Berlin und ist gezwungen, wieder zurück nach Hause zu gehen. Dort erwartet ihn eine Überraschung. Er findet seine Tante Jana (Judith Engel) in einer eindeutigen Aufmachung vor, die ihn restlos davon abhält, über die Feiertage seine neue Heimat zu verlassen. Um immer wieder Abstand von der angespannten familiären Situation zu bekommen, unternimmt Lars ausgeschweifte Spaziergänge mit seinen beiden Hunden. Als einer der beiden an Tollwut erkrankt und von Maries Vater erschossen wird, verliert Lars einen seiner treusten Freunde. Im Gegenzug erfährt die Beziehung zu Marie immer mehr an Bedeutung. Als dann das Weihnachtsfest immer näher rückt, zu dem Henrik und Lars in guter Hoffnung alle Dorfbewohner eingeladen hatten, taucht seine Mutter mit ihrem neuen, sehr viel jüngeren Lebensgefährten Robert (Marek Harloff) auf, und die gesamte Situation beginnt sich zuzuspitzen…
Seit dem Ende der Stummfilmära gab und gibt es immer wieder Filme, die den elementaren Grundsatz filmischen Erzählens – don’t tell... show! – scheinbar vergessen haben. Prinzipiell ist es unnötig, überhaupt sprachlich etwas mitzuteilen, um eine Geschichte zu erzählen. Friedrich Wilhelm Murnaus „Der letzte Mann“ kommt mit nur einem einzigen Zwischentitel aus, der dazu noch ironischen Inhalts ist. Auch in Tonfilmen gibt es glänzende Beispiele grandios erzählter Filme, in denen kaum gesprochen wird. Kim Ki-Duks Bin-Jip benutzt beispielsweise dazu ein beliebtes Motiv, um die narrative Struktur auf das wesentliche zu reduzieren. Die Einführung einer (taub-)stummen Figur liefert dort, ebenso wie in „Jagdhunde“, den Vorwand zum Sprachverzicht. Bei letztgenanntem Film tritt das Element der verweigerten Kommunikation mit den Auswärtigen seitens der Dorfbewohner hinzu. Durch den Reduktionismus wird im Gegenzug der Freiraum gewonnen, bewusster mit Gestik, Mimik, Musik oder auch einfach nur Bildern zu arbeiten. Die Bildsprache in „Jagdhunde“ bedient sich dabei häufig der Natur entlehnten Metaphern und mutet sehr poetisch an.
Trotz der Stummheit Maries und der Weigerung der Dorfbewohner, mit Lars und Henrik zu sprechen, kommt „Jagdhunde“ nicht völlig stumm daher. Doch nur weil hin und wieder gesprochen wird, folgt daraus längst nicht, dass eine wirklich gelungene Kommunikation am Ende zu Stande kommt. Gerade innerhalb der Familie um Henrik wird durchaus rege miteinander geredet, jedoch ohne Wesentliches auszusprechen. Nicht zuletzt deshalb steigt die Spannung im Film kontinuierlich an. Die unter der Oberfläche schwelenden Konflikte haben kaum eine Chance auszubrechen und kulminieren in einer Szene, die unzählige Vorläufer kennt. So zelebriert etwa Das Fest von Thomas Vinterberg auf ähnliche Weise den Augenblick des Zusammentreffens aller involvierten Familienmitglieder oder sonstigen Beteiligten am Essenstisch, wie dies in vergleichbar meisterlicher Art in „Jagdhunde“ am Weihnachtsabend geschieht.
Die tragischen Seiten erhalten ein humoristisches Gegengewicht, mit dem der Film an vielen Stellen aufwartet. Auch an dieser Stelle geht Regisseurin Reyels behutsam, reduziert und mit Lakonie ans Werk. Ein großes Verdienst kommt den Schauspielern zu. Die Besetzung kann neben dem österreichischen Kabarettisten Josef Hader (Silentium, Komm, süßer Tod, „Indien“), der schon von Berufswegen für subtilen Zynismus einsteht, vor allem mit jungen Talenten auftrumpfen, unter denen Constantin von Jascheroff und Luise Berndt in ihren Hauptrolle als Lars und Marie besonders positiv auffallen. Doch nutzen die besten Schauspieler wenig, wenn dem Projekt nicht ein gutes Drehbuch zugrunde liegt. Dieses, ebenfalls aus der Feder der Regisseurin stammend, überzeugt durch das Feingefühl für tragikomische Situationen des Alltags und die kluge Ausgestaltung der einzelnen Charaktere.
Dabei arbeitet Reyels vorwiegend mit Kontrasten. Verkörpert Lars das Prinzip der Bewegung mit dem Drang zur Veränderung, zur Aufweichung von verfestigten Strukturen, steht ihm sein Vater Henrik, und mit ihm fast alle Erwachsenen im Film, mit unbeweglicher Starrheit gegenüber. Zur Allegorie dieser Grundkonstellation wird eine im See eingefrorene Ratte sowie Tieren im Allgemeinen eine besondere Bedeutungstiefe zukommen. Dem Thema der Jagdhunde sollte ursprünglich ein größerer Raum zukommen, was sich aber laut Reyels im Laufe des Drehs verändert hat. Insgesamt betrachtet, überwiegen die Bilder der Kälte. Die verschneite Winterlandschaft, die karge Uckermark, die Musik, besonders Franz Schuberts Winterreise, die zwischenmenschliche Kälte, die mit Verbitterung bis schroffer Abweisung reich nuanciert ist, und leidende, beziehungsweise tote Tiere. Dem entgegen steht, in jeweils leicht gebrochener Form, Weihnachten als das Fest der Liebe, das niemand richtig zu wertschätzen weiß, das komisch anmutende Projekt im Nirgendwo ein Hotel für junge Ehepaare aufzubauen und die aufkeimenden Gefühle zwischen Lars und Marie, deren Kommunikation besser funktioniert, obwohl Marie taubstumm ist.
Der Film hinterlässt den Eindruck, dass nichts von dem, was geschieht und gezeigt wird, zufällig ist. Nichtsdestotrotz wirkt „Jagdhunde“ nicht übermäßig konstruiert, was Reyels’ behutsamem Umgang mit ihren Stilmitteln zu verdanken ist. Wie die wiederholt auftauchende Einstellung von herabfallenden Schneeflocken rieseln selbst die schweren Themen mit einer gewissen Leichtigkeit auf den Zuschauer herab und ergeben in der Gesamtschau ein homogenes und zugleich ambivalentes Bild einer schönen aber frostigen Winterlandschaft. Das offene Ende des Films könnte als kleiner Schönheitsfleck bemängelt werden und ist bestimmt nicht Jedermanns Sache. Denn einerseits wird dadurch die große organische Form, die angestrebt wird nicht vollständig abgerundet. Andererseits passt die Offenheit aber zum Thema des Aufbrechens der vereisten Strukturen, das eines der Leitmotive des gesamten Films ist, und lässt der Phantasie des Zuschauers Raum, dem Ende etwas Positives oder Negatives abzugewinnen, falls man so etwas überhaupt für sinnvoll erachtet. Laut Umberto Eco strebt ja die „Poetik des offenen Kunstwerks danach […] im Interpreten Akte bewusster Freiheit hervorzurufen“. Zu guter letzt rettet der stakkatoartige Schluss den Film also insofern, als dass er vor einer zu platten und kitschigen Festschreibung einer Lesart bewahrt und als kleines Kunstwerk Bestand haben darf.