Ein bislang eher unbekannter Name unter den Regisseuren, die das Gesicht der viel beachteten „Nouvelle Vague Allemand“ prägen, Stichwort „Berliner Schule“, ist Jan Krüger, der bisher einen Langfilm („Unterwegs“) und mehrere Kurzfilme gedreht hat, von denen vier, zwischen 2001 und 2007 entstanden, von der „Edition Salzgeber“ veröffentlicht werden. Die Filme zeichnen sich durch einen spielerischen Umgang mit der stilistischen Gestaltung und eine innovative Herangehensweise an die jeweilige Thematik aus; zudem ist es äußerst spannend, den Werdegang des jungen Regisseurs anhand der chronologisch geordneten Kurzfilme nachzuvollziehen.
Den Auftakt der Reihe bildet das titelgebende Musikvideo „Verführung von Engeln“ (2000), das Krüger noch zu Studienzeiten für Udo Lindenberg gedreht hat. Der Text des Songs stammt von einem Gedicht Bertolt Brechts und ist mitunter pornographischen Inhalts: „Schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht“ heißt es da etwa. Der Text bezieht sich auf sexuelle Zusammenkünfte zwischen Männern, womit ein erstes Thema des Regisseurs Jan Krüger festgehalten werden kann: Homosexualität wird in den Filmen des jungen Regisseurs immer wieder verhandelt. Formal ist das Musikvideo, knapp sechs Minuten lang, konventionell und experimentell zugleich. Die grobkörnigen, teilweise verwischten Bilder liefern das fragmentarische Bild einer nächtlichen Großstadt, kontrastieren des Öfteren mit Brechts/Lindenbergs Text und transportieren eine Stimmung, die an die Großstadtpanoramen Wong Kar-wais (vor allem Fallen Angels) erinnert. Der Einsatz von Zeitlupe, Stop-Motion-Effekten und Handkamera bildet die Grundlage für die moderne Ästhetik, die Krüger in seinem Musikvideo modelliert. Das zentrale Bild in „Verführung von Engeln“ ist, neben den flüchtigen Begegnungen auf der Straße, ein junger Mann, der in einer Badewanne sitzt. Immer wieder kehrt die Montage zu diesem Bild, das sich in „Freunde“ in einer abgewandelten Form wiederfindet, zurück. Der Mann hält seine Ohren unter das Wasser, schottet sich also von der Außenwelt ab, geht in sich. Die Kamera beobachtet ihn unbewegt, wodurch ein Kontrast zu den Bildern auf der Straße entsteht, die von der stets kreisenden Kamera ein Gefühl des Überblickverlierens hervorrufen. Das Schlussbild gehört dann dem eigentlichen Protagonisten des Videos, der bisher hauptsächlich auf der Tonspur dominiert hat: Udo Lindenberg setzt seine berühmte Sonnenbrille auf und der Zuschauer ist bestens eingestimmt auf die folgenden Kurzfilme.
Das erste Bild des folgenden Beitrags, „Freunde“ (2001), würde Sam Peckinpah gefallen: Ameisen tummeln sich in Großaufnahme und werden in einer Lache Spucke ertränkt. Der Film erzählt die Geschichte zweier Freunde im jungen Erwachsenenalter, deren Beziehung zwischen sexueller Anziehung, Liebe und bloßer Kameradschaft pendelt. Gleich zu Beginn sehen wir einen der beiden Jungs beim Joggen, mit einer Taschenlampe in der Hand. Die Kamera fährt vor ihm mit und der Lichtschein der Lampe tanzt auf der Kleidung des Läufers, womit das Motiv des Getriebenseins, ein wesentliches Bild des Films, schlicht und originell eingeführt wird; die treibenden Schnitte – bis hin zu Jump Cuts – verstärken dieses Gefühl der Bewegung nachhaltig. Krüger erzählt anhand von Momentaufnahmen, meistens recht karg und minimalistisch, hin und wieder aber auch mit Stilexperimenten wie einer Sequenz, die für sich genommen ein Musikvideo darstellt. Doch trotzdem verliert der Regisseur nicht den Blick für die Mikroebene, für kleine, scheinbar zufällige Beobachtungen, die „Freunde“ zu einer Schaubühne des Lebens werden lassen und den eigentlichen Reiz des Films ausmachen. Das realistische Spiel der Darsteller (Martin Kiefer taucht in „Unterwegs“ wieder auf) verstärkt diesen Zauber nachhaltig und auch die Wahl der – vielleicht zu häufig eingespielten – Musikstücke trägt zum gelungenen Gesamteindruck bei. Über die 20 Minuten brodelt ein bevorstehendes Unheil unter der Oberfläche, und am Ende kommt es dann mit einer Wucht über den Zuschauer, die in dieser Form wohl nur von begabten Autorenfilmern erreicht werden kann. Und der Kreis zum Eröffnungsbild ist dann auch geschlossen.
Das Besondere an „Tango Apasionado“ (2006), dem dritten Kurzfilm im Programm, liegt an seiner formalen Schlichtheit. Der gesamte Film, immerhin eine knappe Viertelstunde lang, ist in einer einzigen Einstellung gedreht, was den Zuschauer zu genauem Beobachten, zum konzentrierten Hinhören drängt, wenn nicht zwingt. Auch hier führt Krüger direkt am Anfang des Films sein zentrales Motiv ein: Das Bild ist noch schwarz, die Tonspur läuft aber schon; wir hören ein Klingeln, Schritte und das Öffnen einer Tür, die das dann erscheinende Bild halb verdeckt. Erst als sie geschlossen ist, und beide Protagonisten (wieder zwei Männer), sich im Raum befinden, offenbart sich die ganze, simpel ausgeleuchtete Szenerie: Eine Sitzecke mit Sofa, Sessel und Glastisch, sowie eine Lampe und ein Bücherregal. Innerhalb dieser Kulisse entfaltet sich ein Streitgespräch zwischen den Männern; schnell wird klar, dass beide eine Beziehung geführt haben, deren Nachspiel noch nicht ganz ausgestanden ist. Langsam bewegt das Gespräch sich auf die Essenz zu, auf den Kern des Problems – und dann schafft es ein einziger Satz, den Zuschauer nachhaltig vor den Kopf zu stoßen. Die Dramaturgie des Films fokussiert sich auf das Gesprochene und enthebt sich damit zwar dem spezifisch Filmischen, wird aber auf der anderen Seite zu einer Versuchsanordnung, die das postmoderne Thema der gestörten Kommunikation auf interessante Weise verdichtet; „Schlussklappe!“ heißt es nach dem Abspann und die Lektion zum Thema Zuhören ist auf originelle Art beendet.
Der mit einer halben Stunde längste Kurzfilm, „Hotel Paradijs“ (2007), steht den anderen Filmen in nichts nach und erscheint wie ein Sammelbecken der stilistischen und narrativen Motive, die Krüger in seinen Kurzfilmen verwendet. Paul (wieder Martin Kiefer) lebt in Amsterdam und trifft jeden Tag seinen Liebhaber, bis er schließlich auf die hübsche Asiatin Claire trifft, die dieselbe Jacke wie er trägt. Mit ihr streift Paul durch die Stadt, ins Kino, zum Hundefleisch-Essen und in das Hotel, in dem Claire wohnt. Dort kommen sie sich auch näher, eine flüchtige Liebesbeziehung flackert auf und letztlich steht Paul zwischen Claire und seinem Liebhaber, sein ganzes Wesen wird auf eine Probe gestellt. Die Geschichte endet ähnlich wie Francois Ozons Kurzfilm „Das Sommerkleid“, der eine ähnliche Konstellation auslotet, und Paul liegt verlassen auf dem Hotelbett, auf welchem er vorher gemeinsam mit Claire geschlafen hat. Krügers Inszenierung ist dabei sehr gemächlich, und trotzdem mit stilistischen Experimenten wie dem Wechsel von Schwarz/Weiß- und Farbaufnahmen, dem Einsatz von Zeitraffern, einer intensiven Farbgebung oder der Stilisierung von Rauch und Spiegelungen geprägt (wieder liegt der Vergleich zu Wong Kar-wai nahe).
In der Gesamtsicht weiß die Zusammenstellung der vier Kurzfilme komplett zu überzeugen. Die Homogenität der Themen, die sich immer um Beziehungen der Menschen untereinander, um Kommunikation und Sexualität drehen, gewährleistet, unterstützt von der stets gelungenen Ästhetik, einen dramaturgischen Zusammenhalt, der vielen Kurzfilmzusammenstellungen abgeht. Die Kurzfilmkompilation „Verführung von Engeln“ funktioniert somit auf zwei Ebenen: als Einsicht in die Genesis eines Filmemachers und als das, was Filme so unmittelbar wie keine andere Kunstform sein können – ein Fenster zum Leben, eingerahmt in der Kinoleinwand.