Zusammen mit Angela Schanelec und Christian Petzold gehört Regisseur Thomas Arslan zu den bekanntesten Begründern der so genannten „Berliner Schule“. Mit Filmen wie „Marseille“, Gespenster oder zuletzt Pingpong zeichnet sich diese Stilrichtung meist durch eine minimalistische Wagheit aus, die ihre Gegner in Rekordzeit entschlummern und ihre Fans in einen beinahe irrealen Rausch abtauchen lässt. Bei der diesjährigen Berlinale waren nun alle drei Regisseure mit ihrem jeweils neuesten Werk vertreten. Petzolds Yella, für den Nina Hoss als beste Darstellerin mit dem Silbernen Bären geehrt wurde, startet ebenso wie Schanelecs „Nachmittag“ erst im September in den Kinos, so dass Arslans Familiendrama „Ferien“ nun Mitte Juni den Anfang macht. Während die Filme der Berliner Schule vor allem bei den Franzosen hoch im Kurs stehen, von der wichtigsten französischen Filmzeitschrift „Cahiers du Cinéma“ sogar schon als deutsche Nouvelle Vague bejubelt werden, tut sich die deutsche Filmkritik und auch das hiesige Art-House-Publikum mit ihnen noch immer schwer. Und so dürfte auch der Kinobesuch von „Ferien“ für alle unvoreingenommenen Neueinsteiger wieder einmal ein interessantes Glücksspiel darstellen: Entweder langweilt man sich aufgrund der – nur oberflächlichen - Einfachheit des Stoffes zu Tode, oder man wird mit einem aufregend-komplexen Beziehungsgeflecht reichlich für seinen Mut entlohnt.
Das abgelegen in der Uckermark stehende Landhaus von Anna (Angela Winkler) und ihrem Mann Robert (Wigand Witting), die hier gemeinsam mit ihrem Teenager-Sohn Max (Amir Hadzig) und Annas pflegebedürftiger Mutter (Gudrun Ritter) leben, wird in den Sommerferien zum Refugium weiterer Mitglieder der Großfamilie. Annas Tochter aus erster Ehe Laura (Karoline Eichhorn) kommt mit Freund Paul (Uwe Bohm) und ihren beiden Kindern aus Berlin. Und auch Lauras Schwester Sophie (Anja Schneider), die zuletzt lange Zeit im Ausland an ihrer Musikkarriere gearbeitet hat, taucht überraschend auf. Doch die idyllischen Sonnentage halten nicht das, was sie im ersten Moment zu versprechen schienen, immer mehr Risse im Familienbund treten zum Vorschein. Annas Mutter erkrankt schwer und muss ins Krankenhaus. Laura gesteht Paul eine Affäre und will sich deshalb von ihm trennen. Und auch Anna selbst ist sich gar nicht mehr so sicher, ob sie in dem hergerichteten Landhaus, das so weit ab vom Schuss liegt, eigentlich noch weiter leben will…
„Ferien“ ist ein im besten Sinne minimalistischer Film. Zwar prallen ganze zehn Familienmitglieder aus immerhin vier Generationen in „Ferien“ aufeinander, der große Knall bleibt jedoch konsequent aus, vielmehr reicht ein simples „Blinde Kuh“-Spiel als Rechtfertigung für eine Szene aus. Rechnet man die Anzahl der einzelnen Bande kurz durch, kommt man auf stolze 45 Stück. Natürlich spielt die Mehrzahl davon im Film nur eine untergeordnete Rolle, aber die Zahl verdeutlicht, dass diese Familie in den Ferien in der Uckermarck ohne weiteres genug Stoff bietet, um auch ohne jede spektakuläre oder hochdramatische Wendung einen 91-minütigen Film zu füllen. Arslan legt dieses alltägliche Beziehungsgeflecht erst nach und nach offen, ohne es dabei jedoch in irgendeiner Weise anatomisch genau zu sezieren, vielmehr bleibt er auf der Ebene von wagen Andeutungen und surrealen Stimmungen haften. So ergibt sich für das Publikum dahingehend eine große Herausforderung, dass er sich zu jedem kurzen Szenenschnipsel und zu jeder angedeuteten Geste eine ganze Latte an eigene Geschichten zur genaueren Beleuchtung hinzudenken kann. Wie komplex und aufregend das Beziehungsgestrüpp also schlussendlich wird, hängt so zu großen Teilen auch von der eigenen Phantasie und der eigenen Lebenserfahrung des Zuschauers ab.
Ob man nun in den Film einsteigt oder außen vor bleibt, ob man sich langweilt oder gut unterhaltend fühlt, ist an dieser Stelle bereits entschieden. Wer jedoch zu ersterer Gruppe gehört, wird auch noch weitere Gründe als das aufregende Familiengeflecht finden, „Ferien“ zu mögen. Vor allem Arslans Gespür für alltägliche, aber nichtsdestotrotz visuell aufregende Einstellungen stechen hier als erstes ins Auge. Ihm reichen ein paar farbige Kegel, die aus einem Schuppen fliegen, oder ein Schwarm Mücken, der über einer Tischtennisplatte kreist, um aus einer ganz alltäglichen Beobachtung ein hochinteressantes filmisches Bild zu zaubern. Nebenbei würzt Arslan auch noch viele Dialoge mit einem bissigen, entlarvenden Witz, der dem des französischen Altmeisters Eric Rohmer nicht unähnlich ist. Und zuletzt gibt es natürlich auch noch den großartigen Cast, in dem verdiente Größen wie Angela Winkler (Die Blechtrommel, Die verlorene Ehre der Katharina Blum) oder Karoline Eichhorn („Der Felsen“) neben Nachwuchsschauspielern und Laiendarstellern brillieren. So bleibt zu hoffen, dass „Ferien“ nicht das gleiche Schicksal wie so viele gute deutsche Filme der vergangenen Jahre ereilen und somit nicht vom einheimischen Publikum gemieden wird.