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    Heavenly Creatures
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Heavenly Creatures
    Von Martin Thoma

    Peter Jackson kennt jeder, denn er hat den „Herrn der Ringe“ verfilmt. Auch Kate Winslet gehört zu den ganz großen Namen Hollywoods, denn sie hat an der Seite von Leonardo di Caprio in Titanic gespielt. Als 1994 das Drama „Heavenly Creatures“ entstand, sah das noch anders aus. Winslet war eine 19-jährige Debütantin und Jackson galt als bärtiger Exzentriker aus Neuseeland, der mit programmatisch doppeldeutig betiteltem Trash wie Bad Taste oder Braindead immerhin die richtigen Leute ärgerte (in Deutschland zum Beispiel die Realsatiriker von der Bundesprüfstelle). Der Silberne Löwe in Venedig für „Heavenly Creatures“ und eine anschließende Oscar-Nominierung für das Drehbuch waren damals echte Überraschungen. Aber die Auszeichnungen sind mehr als verdient: „Heavenly Creatures“ ist und bleibt einer der ganz großen Filme im Werk der beiden Künstler.

    Frei nach einer wahren Begebenheit erzählt Jackson die Geschichte der jugendlichen Außenseiterinnen Pauline Rieper (Melanie Lynskey) und Juliet Hulme (Kate Winslet), die in den 50er Jahren im neuseeländischen Christchurch ein brutales Verbrechen begingen. Der Film setzt mit einem Wochenschau-Werbefilmchen für den Vorort Ilan ein, das auf grandiose Weise das damalige Idealbild einer gesunden Gesellschaft vorgibt. Die Protagonistinnen – man ahnt es schon vor ihrem ersten Erscheinen – werden es weder erfüllen noch aus ihren Köpfen kriegen können. Dann stürzt die Kamera die Zuschauer mit den hysterisch taumelnden und blutbeschmierten Hauptfiguren ins vorweggenommene Ende – schwarz-weiß dazwischen geschnitten: Paulines zusammenbrechende Traumwelt. Der ganze Einstieg ist meisterhaft aufgebaut und ein Glanzstück des Suggestiven.

    Die introvertierte Pauline kommt aus einfachen Verhältnissen. Sie hat ein Knochenleiden, in ihrer Kindheit war sie deshalb lange schwer krank. Ihre Idole sind der Startenor Mario Lanza und der abgründige Orson Welles. Der langweiligen und geschniegelten Normalität Christchurchs verweigert sie sich. Allerdings bleibt ihr Widerstand passiv. Das ändert sich mit dem Erscheinen Juliets. Deren Elternhaus ist reich und modern, die Familie gebildet und weit gereist. Für Juliet ist es selbstverständlich, extrovertiert und selbstbewusst aufzutreten. Die Art, wie sie gleich in ihrer ersten Schulstunde die Französischlehrerin korrigiert, löst etwas aus in Pauline. Die verfällt der Zugereisten zunehmend, als sie erfährt, dass Juliet auch unter einer schweren Krankheit leidet und genau wie sie Mario Lanza verehrt. Und Juliet kann eine Freundin wie Pauline ebenso gut gebrauchen. Die beiden verlieben sich ineinander, und da der Christchurch-Vorort nicht der Ort für diese Liebe sein kann, erschaffen sie sich eine von ihren Idolen und einer dekadenten Königsfamilie bevölkerte Fantasiewelt. Je größer der Widerstand von außen wird, desto stärker ziehen sich Pauline und Juliet in ihre Gegenwelt zurück. Als sie schließlich getrennt werden sollen, sind sie zum Äußersten bereit, um sich und ihr Königreich der Verrückten gegen diesen Angriff zu verteidigen...

    „Heavenly Creatures“ lebt von den überragenden Leistungen seiner Hauptdarstellerinnen. Kate Winslet (Vergiss mein nicht, Zeiten des Aufruhrs, Der Vorleser) macht hinter Juliet Hulmes schriller Extrovertiertheit große Verunsicherung sichtbar. Ihre Figur bewegt sich stets an der Grenze zur Hysterie und ist dabei – darin liegt Winslets größte Leistung – einfach umwerfend. Melanie Lynskey („Two And A Half Men“, The Informant), die mit ihrer weiteren Karriere bisher weniger Glück hatte als Winslet, liefert in „Heavenly Creatures“ eine mindestens ebenso starke Vorstellung. Sie verbindet Paulines unterdrückte Energie, die Scham über ihren niedrigen sozialen Status und ihre jugendlichen Sehnsüchte in einer perfekt ausbalancierten Darstellung zu einer explosiven Mischung. Gemeinsam vermitteln Winslet und Lynskey den Stolz der Mädchen darauf, von einer Gesellschaft für verrückt erklärt zu werden, deren Beschränktheit sie zumindest zum Teil durchschauen.

    Peter Jackson und sein schon in den vorangegangenen Trashfilmen eingespieltes Team um Co-Autorin (und Ehefrau) Frances Walsh und Editor Jamie Selkirk, das ein paar Jahre später gemeinsam das monumentale Herr der Ringe-Projekt in Angriff nehmen wird, nähern sich seinem schwierigen Stoff von der ersten bis zur letzten Einstellung mit nicht nachlassender Intensität. Jacksons Bereitschaft, sich bedingungslos auf Fantasiewelten einzulassen und sie seinem Publikum mit allen ihm zur Verfügung stehenden technischen Mitteln sowie einem Höchstmaß an Akribie und Kreativität mitreißend zu präsentieren, macht „Heavenly Creatures“ zu einem herausragenden Erlebnis. Selten ist die hysterische Weltsicht von Teenagern so suggestiv und keine Peinlichkeit fürchtend inszeniert worden. Die Kamera tanzt zu Mario Lanza und fliegt über dramatische Landschaften. Die Grenzen zwischen den Erlebnisebenen werden aufgelöst, wenn die Knetfiguren, mit denen Pauline und Juliet ihre „Vierte Welt“ bevölkern, sich übergangslos in reale Figuren verwandeln und umgekehrt. Der Bilderfluss strebt unaufhaltsam voran und gibt dem Geschehen die Aura des Unaufhaltsamen.

    Mit Detailversessenheit wird wirkungsvoll die Atmosphäre des 50er-Jahre-Neuseelands beschworen. Wer das authentische „Healthy-Kiwi“-Poster im Sprechzimmer des Psychotherapeuten hängen sieht, hält auch die Darstellung seines Umgangs mit der möglichen Homosexualität der Mädchen nicht für übertrieben. Dazu kommt Jacksons Desinteresse an moralischen Urteilen und sein Einfühlungsvermögen in die Zwänge gebrochener Charaktere. Tagebucheintragungen der realen Pauline Rieper ergänzen das Gezeigte als Off-Kommentar und gerade in der Kombination offenbart sich ihre verschobene Weltsicht. Zugleich sind diese persönlichen Notizen trotz aller offensichtlichen Widersprüche ein äußerst effektives Mittel, Paulines „Vierte Welt“ erfahrbar zu machen. Diese differenzierte Figurenzeichnung zahlt sich auf allen Ebenen aus. Am Ende steht ein monströses Ereignis, aber keine der Figuren in diesem Film ist ein Monster. Obwohl die Täterinnen fast die ganze Zeit im Mittelpunkt stehen und ihr Verhalten zu keinem Zeitpunkt moralisch bewertet wird, ist es letztlich dennoch ihr Opfer, dem das größte Mitgefühl gilt.

    Eine notwendige Warnung: Leider gibt es von diesem modernen Klassiker in Deutschland immer noch nur die unverständlicherweise um zehn Minuten gekürzte US-Kino-Fassung auf DVD. Die ziemlich radikale Straffung betrifft vor allem einige Szenen aus der Fantasiewelt der Mädchen sowie aus Juliets Elternhaus. Besonders das Fehlen der letzteren bringt den Film inhaltlich etwas aus dem Gleichgewicht. Wenn sich keine andere Möglichkeit bietet, lohnt sich allerdings auch die gekürzte Fassung.

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