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    Das Waisenhaus
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Das Waisenhaus
    Von Jonas Reinartz

    „Niemals hat mich wohl etwas stärker fasziniert als der Gedanke an merkwürdige Störungen alltäglicher Naturgesetze oder an das ungeheuerliche Eindringen unbekannter Wesen aus einem grenzenlosen Draußen in unsere Welt.“ (H.P. Lovecraft) [1]

    Ist es legitim oder etwa unvermeidbar, bei der Ausarbeitung eines künstlerischen Werkes auf offensichtliche Vorbilder zurückgreifen? Dies war stets eine dieser Fragen, die sich nicht wirklich zufriedenstellend beantworten lassen. Zweifellos hält die Kunst als Nachahmung des Lebens nur eine Handvoll von Erzählmustern bereit, auf die man zwangsläufig zurückgreifen muss. Anders sieht es hingegen aus, wenn die bewusste Variation eines Themas ansteht. Gerade in der mittelalterlichen Literatur bestand die Kunst des Erzählens gerade darin, altbekannte Stoffe zu variieren und ihnen eigene Ansichten oder Umdeutungen aufzuzwängen, sei es in winzigen und dabei doch entscheidenden Details. Auch Geistesgrößen wie Shakespeare oder Goethe fielen Figuren wie Hamlet oder Faust nicht vom Himmel. Beim Plagiat sieht es hingegen ein wenig anderes aus. Das unsystematische Aneinanderreihen diverser Versatzstücke sorgt eher für Verärgerung, hat man doch als Rezipient das starke Gefühl, es mit einem Blender zu tun zu haben und dies alles an anderer Stelle schon einmal besser gelesen bzw. gesehen zu haben. Auf Juan Antonio Bayonas Erstlingswerk „Das Waisenhaus“, dessen Protagonistin nach Jahren in das titelgebende Gebäude, dem Ort ihrer Kindheit, zurückkehrt, und mit mysteriösen Geschehnissen konfrontiert wird, trifft dieses Verdikt nur in Teilen zu. Obgleich die Vorbilder jederzeit und auch zu offensichtlich zu erkennen sind, ist ihm und Produzent Guillermo del Torro ein formal bemerkenswerter, angenehm altmodischer Gruselfilm gelungen, der sich wohltuend von trendiger Torture-Porn- Konfektionsware wie Saw 4 und Konsorten abhebt.

    Laura (Belén Rueda) verlebte einen Teil ihrer Kindheit in einem Waisenhaus und möchte es nun zusammen mit ihrem Mann Carlos (Fernando Cayo) wiedereröffnen. Gut gestimmt macht sie sich ans Werk, einzig ihr kleiner, aidskranker Sohn Simón (Roger Príncep) bereitet ihr Probleme. Häufig berichtet er seinen Eltern von seinen unsichtbaren Freunden, insbesondere ein gewisser Tomas besucht ihn häufig, so berichtet er zumindest. Argwöhnisch versucht Laura das Rätsel zu lösen, doch zunächst scheint es sich bei Simón lediglich um ein Kind mit viel Fantasie zu handeln. Imaginäre Spielkameraden sind bekanntlich keine Seltenheit. Als jedoch die merkwürdige alte Frau Benigna (Montserrat Carulla) auftaucht und sich nachts auf dem Gelände des Waisenhauses herumtreibt, wird die Angelegenheit immer verzwickter. Auf dem Geburtstag ihres Sohnes kommt es zu einer Attacke durch Tomas, einem entstellten Jungen, der tatsächlich existierte und sein Leben lang gehänselt wurde und sein Antlitz hinter einer Maske verbarg, bis er nach einem Streich anderer Kinder in einer Höhle für immer verschwand. Das gleiche Schicksal droht auch Simón, der sich zum Meer aufmachte und nun vermisst wird.

    Die Suche nach dem verlorenen Kind, das Beharren auf der Gewissheit, dass es noch am Leben sei und die Kontaktaufnahme zu einer älteren Person, die als Medium dienen soll, es zurückbeschaffen könne, erinnern nicht von ungefähr an Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen. Hinzu kommen u.a. Einflüsse aus The Others „Poltergeist“, „Schloss des Schreckens“ und „Freitag der 13.“, ja selbst Marcus Nispels Texas Chainsaw Massacre-Remake wird in einer „fake documentary“-Passage zitiert, allerdings ohne den eigenen Erzählton zu verraten. Alle diese Remineszenzen sind zwar alles andere als originell, jedoch durchaus amüsant und harmonieren bis auf wenige Ausnahmen recht gut miteinander. Etwas problematischer ist da schon der Gedanke, heutzutage würde irgendein Zuschauer ernsthaft auf den red herring hereinfallen, Simón würde sich seine Spielkameraden lediglich vorstellen. Bereits bei William Friedkins Der Exorzist war dieser dramaturgische Kniff – Stichwort: Captain Howdy – mehr als zweifelhaft, denn welcher Zuschauer glaubte im Jahre 1973 angesichts des Paratextes, also der mehr als eindeutigen Begleitinformationen wie Titel, Aushangfotos, Werbeanzeigen und Interviews, ernsthaft daran, dass Reagan nur ein wenig fantasierte? Friedkin milderte es durch seinen aufgrund seines Hintergrundes als versierter Dokumentarfilmer entstandenen, realistischen Ansatzes erheblich ab, im Gegensatz zu Bayona, der von Anfang an die Mittel des klassischen Horrorkinos verwendet, somit die gängigen Zuschauererwartungen bedient und zugleich ebenfalls ohne Umschweife zu fesseln vermag. Die Zweigleisigkeit ist für die Konstruktion der Handlung unabdinglich, jedoch wird sie in diesem Fall zu lange vorangetrieben, was besonders angesichts der Filmkenntnisse der heutigen Zuschauer etwas irritiert.

    Stilistisch zeigt sich der Debütant sehr selbstbewusst, so gelingen ihm und Kameramann Óscar Faura eindrucksvolle Breitwandbilder, die geschickt mit Licht und Schatten spielen, Unheilvolles erahnen lassen und mehr Gruseln verursachen als so mancher Schockeffekt. Davon gibt es auch hier so einige, darunter durchaus effektive, doch gelegentlich wirken die Sequenzen, in denen sie platziert sind, ein wenig überdramatisch und erinnern mit ihrer überdrehten Musikuntermalung mitunter an einen Pino Donaggio, der zwar in Filmen wie Dressed To Kill Beeindruckendes schuf, jedoch desöfteren auch mächtig danebengriff und zur Parodie eines Bernard Hermann (Vertigo, Psycho, Taxi Driver) mutierte. Allzu sehr fällt dieses Manko nicht ins Gewicht, ebenso wie zwei Teleobjektiv-Einstellungen, in denen der Schärfezieher nicht mehr rechtzeitig reagieren kann und so kurzzeitig unscharfe Bilder entstehen. Ein wenig sollte Bayona vielleicht demnächst davon Abstand nehmen, häufig bei in den Bildvordergrund ins Bild tretenden Personen zu schneiden – eine im Grunde brillante Technik, etwa zu sehen in den beiden für ihre Montage oscargekrönten Der weiße Hai und Black Hawk Down, geschnitten von Verna Fields bzw. Pietro Scalia -, denn der Effekt verliert bei allzu häufiger Wiederholung allmählich an Reiz. Gerade die Montage schafft generell bemerkenswerte Übergänge und lässt durch eine sanfte Überblendung sowohl die schlafende Laura als auch den Inhalt ihres Traumes sichtbar werden. Assoziationen an die Möglichkeiten der Malerei, mithilfe eines pluriszenischen Bildes auf engem Raum eine aus mehreren Elementen bestehende Geschichte zu erzählen, sind wohl durchaus beabsichtigt.

    Überdies hält der Traum an sich eine interessante Lesart für den Film bereit. Ist man bereit, die Plotkonstruktion im Sinne Freuds zu betrachten, der schrieb, dass jeder Traum eine Projektion des Wunsches ist, so wird auch der recht enttäuschende und vorhersehbare Schluss ein wenig relativiert. Ohne hier zuviel vorwegzunehmen, lässt sich sagen, dass Laura am Schluss genau das erreicht hat, was sie sich seit dem abrupten Abbruch ihrer glücklichen Kindheit im Waisenhaus immer (unbewusst) gewünscht hat und mit ihrer Anreise an den ihr wohlbekannten Ort in Gang setzt. Dass dabei auf dem Weg schmerzvolle Erfahrungen liegen, ist kein Widerspruch, denn aufgrund des Dranges, an ihren Ursprung zurückzukehren, ist sie bereit, etliches Leid zu ertragen. Belén Rueda gelingt die Darstellung der von einem unerschütterlichen Mutterinstinkt geprägten Laura bravourös, und auch ihr Filmpartner, Fernando Cayo spielt souverän, auch wenn er eher als Stichwortgeber fungiert und in gen Ende nahezu verschwindet. Ihr gemeinsamer Filmsohn namens Roger Príncep wirkt gerade für einen Kinderdarsteller ungewöhnlich konzentriert. Überaus charmant ist der Einfall, Geraldine Chaplin („Doktor Schiwago“, Zeit der Unschuld, Sprich mit ihr) als blinde Aurora mit übernatürlichen Fähigkeiten zu besetzen. Nie aus dem übergroßen Schatten ihres legendären Vaters herausgekommen, besitzt sie nichtsdestotrotz die eindrucksvolle Aura einer Grande Dame. Ihre Präsenz kann zudem symptomatisch für das Ganze verstanden werden.

    „Das Waisenhaus“ ist trotz diverser Schwächen vor allem Horror mit Stil, womit sich der Einfluss des Produzenten Guillermo del Toro deutlich bemerkbar macht. Sieht man einmal von Blade 2 ab, sind seine anderen Werke, wie die Wunschprojekte „The Devil's Backbone“ und Pans Labyrinth, eher verfilmte dunkle Kinderträume als reines Polterkino. Nie überwiegt der pure Schock, es ist die Art, wie die einzelnen, aus anderweltlichen Kräften resultierenden Eindrücke aufeinander aufbauen und zusammenwirken und in den Alltag einbrechen, was das wohlige Erschaudern auslöst. Es bleibt zu hoffen, dass er auch zukünftig vielversprechende Jungtalente fördern wird, denn für Freunde des Genres ist Juan Antonio Bayonas Erstling ohne Frage empfehlenswert.

    [1] H.P. Lovecraft: Azathoth.Vermischte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 244.

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