Für sein Spielfilmdebüt „Wild Tigers I Have Known“ konnte der seinerzeit 23-jährige Cam Archer mit Gus van Sant (Elephant, Paranoid Park) einen äußerst namhaften und in schwulen Sujets („My Own Private Idaho“) versierten Produzenten gewinnen. Leider versteht es der Debütant dennoch nicht, die guten und interessanten Ansätze seiner Arbeit in ein stimmiges Gesamtbild zu verpacken. Trotz starker Bildkompositionen und überzeugender Darsteller wirkt der Coming-Out-Film über weite Strecken zu abstrakt und zerfahren - beinahe wie der überlange Zusammenschnitt eines Musikvideos. Aufgrund dieser Schwachpunkte wird es dem auf dem Sarasota Filmfestival ausgezeichneten Drama wohl auch äußerst schwer fallen, eine größere Anhängerschaft für sich zu begeistern.
Damit hat „Wild Tigers I Have Known“ etwas mit seiner Hauptfigur gemein: Der introvertierte, 13 Jahre alte Logan (Malcom Stumpf) fristet auf seiner Junior High School nämlich auch ein Außenseiterdasein und flüchtet sich deshalb andauernd in Tagträumereien. In dem von Langeweile geplagten Rodeo (Patrick White) findet Logan schließlich einen Weggefährten, mit dem er sich auf ausgedehnte Exkursionen in die umliegende Natur begibt. Während ihrer Expeditionen, bei denen sie wilde Berglöwen zu finden hoffen, freunden sich die Außenseiter an. Logan entwickelt jedoch mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Rodeo und verliebt sich in den älteren High-School-Schüler…
Cam Archer bettet seinen Film in eine Wiege aus elegischer Ruhe, die viel zu oft in Langeweile umschlägt. Dialoge sind - vor allem im Prolog - rar gesät. Die Geschichte wird überwiegend in abstrahierten, traumhaften Sequenzen erzählt. Die Figuren wirken in dieser verfremdeten Welt über weite Strecken wie Fremdkörper, für die sich der Zuschauer nur sehr schwer erwärmen kann. Archer charakterisiert seine Hauptfigur nicht über deren Handlungen, sondern wagt einen rein visualisierten Blick in Logans Innenleben. Diese eigenwillige Art der Annäherung an einen Charakter gipfelt optisch viel zu oft in mit Farbfiltern auf surreal getrimmten Szenen, die zwar ausgesprochen kreativ daherkommen (und somit auch den Sarasota-Filmpreis für Originalität irgendwie rechtfertigen), sich für den Fortlauf der Handlung jedoch als äußerst unzweckhaft erweisen.
Archer schafft es nur in wenigen Szenen, dem Zuschauer einen wirklich scharfen Blick in Logans Seelenleben zu gewähren. Dies ist insbesondere meist dann der Fall, wenn er mit seinem einzigen „Freund“ Joey (Max Paradise) zusammensitzt: Zunächst versucht Joey, der ein ebensolches Mauerblümchen wie Logan ist, eine Liste voll männlicher Dinge zusammenzustellen, mit der die beiden endlich ihr Außenseitertum ablegen könnten. Doch Logan will sich gar nicht anpassen, er ist mit sich zufrieden und bleibt lieber alleine, bevor er sich für andere verstellen muss. Von diesem Standpunkt weicht Logan allerdings ab, als er erkennen muss, dass Rodeo keine Zuneigung für ihn entwickelt. Mit verstellter Stimme ruft er des Nachts bei Rodeo an und gibt sich als Leah aus. Dies scheint für ihn der einzige Weg zu sein, zumindest etwas mehr als freundschaftliche Nähe von Rodeo zu erfahren. Als dieser jedoch schließlich darauf drängt, sich mit Leah zu treffen, ist die finale „Explosion“ vorprogrammiert. Inhaltlich kann Archer aufgrund seiner verkopften Inszenierung im Gesamten kein nachvollziehbares und glaubwürdiges Bild des sich selbst findenden Protagonisten zeichnen. Insbesondere der öffentliche Auftritt in Frauenkleidern ist ein Umschwung innerhalb der Figur, der sich aus nahezu heiterem Himmel ereignet.
Wirklich ärgerlich ist die lethargische und abstrahierte Inszenierung schließlich, weil sie nicht nur den Zuschauer von dem Geschehen fernhält, sondern auch, weil so von den starken Darstellern, mit denen „Wild Tigers I Have Known“ aufwarten kann, unnötigerweise abgelenkt wird. Hauptdarsteller Malcolm Stumpf war bereits in dem Madonna-Vehikel „Ein Freund zum Verlieben“ zu sehen und spielt nun hervorragend den seine sexuelle Orientierung suchenden Außenseiter. Dabei harmoniert er auch glaubhaft mit Rodeo-Darsteller Patrick Wilson (in seinem Filmdebüt) und Fairuza Balk („Der Hexenclub“, American History X, Almost Famous), die seine Filmmutter darstellt.
Cam Archer ist trotz aller Kritikpunkte sicherlich ein Independent-Regisseur, dem eine verheißungsvolle Zukunft bevorstehen könnte. In seinem Debüt offenbart er bereits ein Gespür für Bildkompositionen und Schauspielerführung. Allerdings vermag er es in diesem Fall noch nicht, aus diesen Bestandteilen ein stimmiges Gesamtbild zu fertigen. Viel zu verkopft stellt er die sexuelle Identitätssuche seiner jugendlichen Hauptfigur dar und weicht immer wieder in zu abstrakte und nichtssagende Tagtraumsequenzen aus. Sicherlich hätte Archer seine Coming-Out-Geschichte nicht derartig konventionell wie zum Beispiel Hettie Macdonald in ihrem herausragenden „Beautiful Thing“ erzählen müssen. Auf Archers surreal-abstrakten Stil kann sich der Zuschauer aber nur schwer einlassen, weshalb dieser häufig eher selbst in Tagträume abdriftet, als dem Filmgeschehen dauerhaft konzentriert zu folgen.