Der Schweizer Film-, Fernseh- und Opernregisseur Daniel Schmid ist im August dieses Jahres im Alter von 64 Jahren gestorben, weswegen seine viel beachtete Dokumentation „Der Kuss der Tosca“ von 1984 in einer Wiederaufführung im Kino gezeigt wird. Damals hatte seine Dokumentation etliche Preise gewonnen und ist auf vielen Festivals – unter anderem in Locarno, Hof, Paris und Montreal – erfolgreich gelaufen; und auch heute, mehr als zwanzig Jahre später, hat sein vielleicht schönster Film nichts an seiner anrührenden Menschlichkeit verloren. Schmid absolvierte von 1962-68 ein Studium der Geschichte und Publizistik an der FU Berlin und studierte von 1966-69 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In seiner vielseitigen Karriere hat er Filme für Kino und Fernsehen gedreht, an Theatern und Opern inszeniert und als Schauspieler und Buchautor gearbeitet. Mit „Der Kuss der Tosca“ hat er sich einen Platz in der Geschichte von Kino-Dokumentationen gesichert.
Schmid porträtiert in „Der Kuss der Tosca“ das Leben alternder Opernstars in einem Altersheim, das vom Meister persönlich – Giuseppe Verdi – 1896 gegründet worden ist; als Anlaufstelle für Menschen, „die weniger Glück hatten“ als er. Das Heim mit dem Namen „Casa di riposa“ liegt an der Piazza Buonarotti in Mailand und bietet ein Obdach für ehemalige Künstler, deren Gagen längst aufgebraucht sind und die unter Ihresgleichen den Lebensabend verbringen. Kameramann Renato Berta fotografiert die Alternden in schlichten und schönen Bildern; er geht nah an sie heran und lässt den Zuschauer in den Gesichtern lesen, denen man deutlich ansieht, dass sie ausgiebig gelebt haben. Sicher sind einige Szenen von „Der Kuss der Tosca“ inszeniert, also manipuliert und somit nicht mehr im vollen Sinn dokumentarisch, sondern das Fiktionale deutlich streifend. Das sieht auch Schmid so und bezeichnet diese Manipulation als eine „komplizenhafte“ – denn auch die alten Primadonnen und Chorsänger werden nicht müde sich vor der Kamera zu inszenieren.
Wunderbar ist die Szene, in der Sara Scuderi und Giovanni Puligheddu die Dolchstoßszene aus Verdis Oper „Der Kuss der Tosca“ nachspielen: Scuderi versetzt ihrem Partner einen Dolchstoß und dieser bricht neben einer Telefonzelle mit den Worten „Ich sterbe, ich sterbe!“ zusammen. Scuderi erwidert: „So stirb, Elender!“ Beide, vor allem aber Puligheddu, haben sichtlich Spaß an dieser Einlage und legen sich voll ins Zeug, um die Show auf ihrer Seite zu haben. Das Klima im Heim wird nämlich durch ein deutliches Konkurrenzverhalten bestimmt, gepaart mit dem nicht zu übersehenden Hang zum Exhibitionismus der Altstars. Als Schmid ein langes Interview mit Sara Scuderi führt, auf das einer der anderen Bewohner wohl neidisch war, findet sie ihr Puccini-Porträt, das eine persönliche Widmung hat, zerkratzt in ihrem Zimmer.
Im Heim scheint die Zeit still gestanden zu sein. Die Alten leben in einem abgeschlossenen Raum, in ihren Erinnerungen vermischen sich Realität und Fiktion untrennbar. Manche sagen ihr letzter Auftritt sei mindestens vier oder fünf Jahre her, dabei war er vor 40 oder 45 Jahren. So wird Schmids Dokumentation auch ein Diskurs über das Erinnern und das Vergessen und welche Rolle die Einbildung dabei spielt. Glaubt man etwas zwanzig Jahre lang, dann wird es in der Erinnerung zur Realität; der Unterschied zwischen eingebildeter und tatsächlicher Realität wird unwichtig. Die Gefahr, die Schmid mit seinem Projekt eingegangen ist, nämlich die Bloßstellung der von ihm gezeigten Menschen durch die Banalität ihres Alltags, hat der Regisseur fabelhaft gemeistert. An keiner Stelle werden die ehemaligen Opernstars auch nur im Ansatz belächelt, in jeder Minute ist die Dokumentation zutiefst menschlich. Ein dokumentarischer Film wie „Der Kuss der Tosca“ wird immer dann hervorragend, wenn er ganz dicht an den Menschen ist; das ist Schmid dank der unaufdringlich poetischen Kamera von Renato Berta und der Wahrhaftigkeit der porträtierten Menschen gelungen. Sie zeigen uns komische, groteske, alltägliche und melancholische Momente. Wenn eine der Operndiven eine ihrer alten Platten hört und dabei fast weinen muss, ist das mehr als anrührend; es ist schlicht, wahrhaftig und vor allem echt.
Als zwei der Männer im Keller alte Kostüme begutachten, sagt einer von beiden: „Das war früher alles in Goldfarben. Mit den Jahren hat es sich abgewetzt.“ Auch wenn alle im Heim noch sehr aktiv und beinahe wie kleine Kinder wirken, trifft es auch für sie zu. Sie haben sich ein wenig abgewetzt und sie sind sich dessen bewusst; eine Grundmelancholie ist in der „Casa di riposa“ immer vorhanden, aber gewiss keine Resignation. Daniel Schmid hätte mit „Der Kuss der Tosca“ eine Art „Big Brother“ im Altersheim machen können; zumindest ist die Gefahr in diese Kategorie abzurutschen bei einem solchen Projekt immer latent vorhanden. Aber Schmid hat das genaue Gegenteil geschafft, nämlich den Zuschauer als mitfühlenden Teilhabenden für sich und seine Protagonisten zu gewinnen. Die ganze Spielzeit über befinden wir uns dicht an der Seite der alternden Musiker und erst ganz am Ende verlässt die Kamera das Heim. Im Hintergrund hören wir die Alten noch leise singen und im Bildvordergrund rasen Autos vorbei. Langsam aber sicher wird der Gesang aus dem Heim vom Straßenlärm übertüncht und wir befinden uns wieder in der Realität. Schade eigentlich.