Es beschleicht einen, erst nur ein Gefühl, etwas Schwaches noch. Etwas, was keinen Grund zu haben scheint, nichts, auf das es gründen könnte, dieses Gefühl. Es steigt empor, langsam, aber es zieht sich nicht wieder zurück. Es ist einfach da – ständig, Tag und Nacht. Ein immer währendes undefinierbares Etwas. Da ist das Leben, der Haushalt, die Kinder, der Mann, die Nachbarn, die Schwiegermutter, die Schwägerin und der Schwager, das Haus, die Wohnung, die Möbel, der Baum vor dem Fenster, die Apotheke – alles ist da, was eben da ist. Was man kennt, zu kennen glaubt, etwas Handfestes, etwas Greifbares, etwas, was man anfassen kann. Aber dieses Gefühl, das hat nichts Haptisches, man kann es nicht fassen, einkreisen, umkreisen, dingfest machen oder „ermitteln”. Es ist nur da. Da.
Die Verhältnisse in Rainer Werner Fassbinders Drama „Angst vor der Angst“ scheinen geregelt. Margot (Margit Carstensen) ist verheiratet mit Kurt (Ulrich Faulhaber), einem einfachen, aber guten, ja gutmütigen, stillen Mann. Und die kleine Bibi (Constanze Haas). Margot liebt ihre Tochter. Im Haus von Kurts Mutter (Brigitte Mira) lebt man. Die Mutter und Kurts Schwester Lore (Irm Hermann) und deren Mann Karli (Armin Meier) leben gemeinsam ein Stockwerk über Margot, Kurt und Bibi. Es scheint alles geregelt, die Mutter passt auf, die Schwägerin beäugt alles, was passiert. Und Kurt bildet sich weiter, lernt höhere Mathematik und anderes. Eine Prüfung steht bevor. Und eine Schwangerschaft. Margot bekommt ihr zweites Kind. Und obwohl alles geregelt ist, ist da dieses Gefühl. Es schleicht in ihr, macht sich breit, weitet sich aus. Es ist Angst. Margot schaut in den Spiegel. „Ich. Das bin ich. Was ist das – Ich?” Sie wird stärker, diese Angst. Dr. Auer (Herbert Steinmetz) verschreibt Valium und Ruhe. Körperlich sei Margot kerngesund. Es seien wohl die Auswirkungen der Schwangerschaft, die sie etwas beunruhigen würde. Aber all das hilft nichts. Auch die Musik Leonard Cohens nicht, auch das neue Kleid und die neue Frisur nicht. Auch die Liebe zwischen Mutter und Tochter nicht. Und schon gar nicht die Giftspritze Lore und die Besserwisserei der Schwiegermutter, die beide sowieso nichts verstehen. Kurt hat keine Zeit, er ist vertieft in seine Prüfungsvorbereitung.
Ruhe. Von wegen Ruhe. Wie will man ruhig sein, wenn man unruhig ist? Es ist die Ruhe der anderen, die man Margot empfiehlt.
Nur der merkwürdige Nachbar, der Margot anstiert und anlächelt, scheint es zu verstehen. Der Herr Bauer (Kurt Raab), der als verrückt gilt und der Medikamente nimmt, sagt es ihr ins Gesicht. Aber Margot will nicht mit ihm reden. Sie hat Angst vor ihrer Angst. Der Apotheker Dr. Merck (Adrian Hoven) – versteht der sie, als sie ihn um Valium anfleht? Er zeigt Verständnis, scheint behutsam zu ihr zu sein. Aber auch vor ihm flieht sie – in den Alkohol. Dann wieder zurück. Sie schläft mit ihm, will bei ihm bleiben. Doch Dr. Merck sagt: „Aber...” Dieses „Aber”, das alles wieder zurückfährt.
Den Schmerz wollte sie spüren, als sie sich die Pulsadern aufschnitt, sagt Margot, um sich sogleich wieder verbinden zu lassen. Ein halbherziger Selbstmordversuch. Schizophrenie, diagnostiziert der eine Arzt, Depression eine andere Ärztin. Die Angst bleibt, trotz aller Medikamente.
Eine Erzählung, die die Aschaffenburger Hausfrau Asta Scheib, damals 35, zwei Kinder, die ab und an in der lokalen Presse schrieb, Fassbinder zusandte, bot für den Regisseur die Grundlage für eine Studie in Angst, blendend gespielt von Margit Carstensen. Und man fragt sich, ob überhaupt eine andere Schauspielerin die Rolle der Margot so eindrucksvoll und bewegend, so realistisch und stringent durch den ganzen Film hindurch hätte spielen können. Fassbinder stellte die Figur der Margot ins Zentrum des Films, ohne die anderen Akteure zu vernachlässigen und ohne die anderen in einem allzu schlechten Licht darzustellen. Und er und die Carstensen zogen alle Register, um dieses Phänomen der Angst vor der Angst darzustellen.
Der von Peter Märthesheimer für den Westdeutschen Rundfunk produzierte Film hält sich nicht nur zurück, was eine Erklärung für die Angst der Margot betrifft. Er will dieses Phänomen gar nicht erklären. Obwohl es zunächst so scheint, als ob die kleinbürgerlichen Lebensumstände, das Festgefahrene des Alltags, die konservative Mentalität von Mutter und Schwägerin, die Neugier der Nachbarn usw. Margot in diese Angst getrieben hätten, erweist sich sehr schnell, dass diese Umstände nichts erklären. Rein gar nichts. Die Ärzte, die Nachbarn, die Verwandten – alle stehen mit Rat und Tat zur Seite, aber es ist ihr Rat für ihre Probleme, nicht für die Angst Margots.
Fassbinder hütet sich aber nicht nur davor zu psychologisieren. Auch in den Mitteln der Darstellung dieser Angst kann man von einer Art extremen Minimalismus sprechen, geradezu von einer kammerspielartigen Inszenierung. Es sind keine hysterischen, überdramatisierten Ausbrüche, die diese Angst bildlich machen. Es ist das Feine, das – so paradox das klingen mag – geradezu Zarte, das sie sichtbar werden lässt, etwa wenn die Kamera zeigt, wie vor Margots Augen die Gegenstände verschwimmen, an den Rändern in Bewegung geraten zu scheinen, als ob nichts mehr so wäre, wie es schien. Es sind die Spiegel, in die Margot schaut, mit dieser Angst in den Augen. Es sind die Blicke der Kamera durch Nischen, aus dem Fenster, vor dem ein Baum den Blick einengt, die Blicke durch Türen, die Blicke der Tochter, die ängstlich und fragend ihre Mutter anschaut. Es ist die Patientin Edda (Ingrid Caven) in der Klinik der Dr. von Unruh (Helga Märthesheimer), eine „Gleichgesinnte”, eine, der diese Angst ebenfalls aus den Augen quillt, wenn sie still in ihrem Bett sitzt, die Augen weit geöffnet, ins Leere zu starren scheint. Und es ist die Angst, die Herrn Bauer, dem unheimlichen heimlichen Herrn Bauer im Gesicht steht.
Die Diskrepanz zwischen den „normalen” Leuten im Film hier, Margot, Herrn Bauer und Edda dort, erscheint fast in der Weise, als hätten unsichtbare Außerirdische die Erde bevölkert und ihre Angst in die drei Menschen geimpft. Aber da sind keine Außerirdischen. Da ist nur etwas Inneres, was erdet, was Margot erdet und immer erden wird. Als ihr Schwager sie am Schluss des Films informiert, dass sich Herr Bauer aufgehängt habe, und Margot aus dem Fenster schaut, den Leichenwagen sieht, da ist sie ganz ruhig. Aber wieder verschwimmen die Gegenstände vor ihren Augen. Die Angst vor der Angst wird bleiben. Das eigene Ich bleibt etwas Unverständliches für sie. Dieses Ich in der Welt macht ihr angst. Eine Erklärung bleibt fern, ungreifbar.
Das Geregelte, „Normale”, das Eingefahrene, das Offensichtliche, das Sichtbare, Haptische bleibt bei sich wie die Angst bei sich bleibt. Wie die dunkle Seite des Mondes werden sie die anderen nie zu sehen bekommen. Aber Margot lebt mit dieser dunklen Seite des Mondes weiter. Die Normalität des Bürgerlichen hat sie eingeholt, „integriert“ – wie es neuhochdeutsch so hübsch-hässlich heißt. Die Angst, das Abgründige bleibt. Die Tabletten „versöhnen“ ihre Angst mit der Normalität. Eine fadenscheinige Lösung.