Einen Klassiker neu zu verfilmen und dabei einerseits der gelungenen Vorlage gerecht zu werden und ihr andererseits neue, aktuelle Bezüge zu entlocken, ist ein schwieriges Unterfangen. Mit seinem zweieinhalbstündigen Justiz-Drama „12“ nimmt der russische Regisseur Nikita Michalkov die Herausforderung an, Sidney Lumets Meisterstück Die 12 Geschworenen aus dem Jahr 1957 für das heutige Russland zu adaptieren. Wie Lumet bringt auch er es fertig, mit seinem Kammerspiel von Anfang bis Ende zu fesseln und dabei die gesellschaftlichen Verwerfungen eines Riesenreichs im radikalen Umbruch als Motor der Handlung zu entlarven. Dass dabei einige Details etwas konstruiert wirken, tut der Wucht des Gesamtwerks kaum einen Abbruch.
Mit facettenreichen Charakteren und kaum überdosierter Symbolik entfaltet Michalkov ein hintersinniges, unterhaltsames Essay über die sozialphilosophischen Fragen des Rechtssystems und der Moral. Zunächst scheint der Fall vollkommen klar: Ein junger Tschetschene hat seinen Stiefvater kaltblütig mit dem Messer ermordet, Tatwaffe und Zeugen sind vorhanden, um die Tat zu bezeugen. In der Runde der zwölf (ausschließlich männlichen) Geschworenen herrscht Einigkeit darüber, dass man in der maroden Turnhalle, die als behelfsmäßiger Besprechungsraum dient, keine Minute länger als notwendig verbringen möchte, schließlich hat jeder Besseres zu tun. Aus einem nicht einmal inhaltlich, sondern formal bzw. prinzipiell geäußerten Anfangsverdacht wachsen jedoch unerwartete Zweifel an der Klarheit der Sachlage. Je nach eigener Perspektive sind die Männer überraschend offen für eine ganz andere Sicht der Dinge. Mit unkonventionellen Methoden werden immer mehr Möglichkeiten des Geschehens deutlich, die Abstimmungsverhältnisse für „schuldig“ und „nicht schuldig“ schwanken beharrlich. Bis zum geforderten einstimmigen Ergebnis ist es noch ein langer, verschlungener Pfad, dessen Ende bis zuletzt im Verborgenen bleibt.
Der mit vielen Preisen, unter anderem dem Oscar für „Burnt By The Sun“ (1994), dekorierte Michalkov spielt geschickt mit Erwartungen und führt dem Zuschauer vor Augen, wie leicht man sich Vorurteilen oder vorschnellen Schlüssen hingibt. Jeder der zwölf Geschworenen verkörpert einen bestimmten Typus, der in der modernen Welt und speziell im sich immer noch neu formierenden Russland zu Hause ist. Der grüblerische Philosoph sitzt neben einem berechnenden Geschäftsmann, der strebsame Professor neben dem ewiggestrigen Rassisten. Die dazugehörigen Klischees sind nicht ohne Absicht überzeichnet, so dass die unterschiedlichen Weltanschauungen zuweilen heftig aufeinanderprallen. Dabei bleibt es nicht aus, dass Fassaden in sich zusammenfallen und dabei gemeinsame Ängste und Sorgen zutage treten. Bestimmend ist letztlich vor allem die Unsicherheit, die sich zunehmend ausbreitet und den zunächst aus rein sachlichen Gründen Zusammengekommenen Türen öffnet für gegenseitiges Verständnis. Fernab jeder Friede-Freude-Eierkuchen-Mentalität bleibt dieses jedoch punktuell und wird von gegenseitigen Vorwürfen und Misstrauen konterkariert, so dass ständig wechselnde Allianzen entstehen – eindrücklicher kann die Atmosphäre auf dem internationalen politischen Parkett kaum dargestellt werden.
Geheimnisvoll bleibt der Leiter der Sitzung, der wenig sagt, aber durch das Innehaben der formalen Schritte viel entscheidet. Seine Haltung scheint unabänderlich, ohne dass er, wie die anderen, Begründungen dafür abliefert. Durch sein Schweigen zum möglichen Tathergang gewinnt er eine scheinbar allwissende Position, die seine Rolle in dem Spiel im Dunkeln lässt.
Die parallel zur Diskussion der Geschworenen geschnittenen Exkurse zu den Begleitumständen der Tat geben dem Zuschauer einen minimalen Wissensvorsprung, der ihn ebenfalls in die Lage bringt, sich ein Urteil bilden zu müssen über Vorgänge, die er nicht erlebt hat, sondern lediglich anhand von Indizien rekonstruieren kann. Durch diesen Kunstgriff hält Michalkov nicht nur die Spannung, vielmehr lässt er die Schwierigkeit von Recht und Rechtsprechung direkt in den Zuschauer eindringen. Wie qualvoll die Zeit des Wartens ohne die Möglichkeit des Einflusses für den Angeklagten ist, macht er durch Zwischenschnitte in dessen Zelle deutlich. Abgesehen von diesen wenigen und gezielt gesetzten Kunstgriffen verlässt sich die Regie auf die Intensität der Darsteller und verzichtet weitgehend auf zusätzliche Effekte. Wie Lumets Schwarz/Weiß-Original (wo das noch wirkungsvoller ist) lädt Michalkov unscheinbare äußere Umstände wie Licht, Wind und Regen symbolisch auf. Entsprechend dem Spielort werden diese durch den veralteten technischen und baulichen Standard der Lokalität ergänzt.
Michalkov, der auch als Schauspieler bereits viele internationale Preise gewonnen hat und hier vor der Kamera mit von der Partie ist, schafft ein intensives Drama über die gesellschaftliche Realität der ehemaligen Sowjetunion, weist jedoch weit über den immer wieder auftauchenden Tschetschenien-Konflikt hinaus. Eine unscheinbare Turnhalle wird nicht nur zum Gerichtssaal über einen jungen Tschetschenen, Michalkov geht hier grundsätzlichen Fragen des menschlichen Miteinanders nach. Das war den Juroren des Filmfestes Venedig einen Sonderpreis für das Lebenswerk wert (den Goldenen Löwen holte sich Ang Lee) und brachte Michalkov eine weitere verdiente Oscar-Nominierung ein. Wer Hintersinnigkeit mit einem Schuss Schmunzeln mag, sollte sich von den 153 Minuten Lauflänge nicht abschrecken und sich diesen Film nicht entgehen lassen.