In Amerika hat das Kino der 70er Jahre, seine Ideale und seine Themen, seine Methoden und seine Motive, zuletzt eine erstaunliche Renaissance erlebt. Die weltpolitischen Entwicklungen nach dem 11. September 2001 und die Auswüchse der achtjährigen Präsidentschaft von George W. Bush waren der ideale Nährboden für Filme aus dem Geist der von Paranoia durchtränkten Polit-Thriller jener düsteren Ära der Krisen und des Misstrauen. Aber nicht nur das Genrekino besann sich zurück auf diese Epoche, die für viele die letzte große Blütephase des amerikanischen Kinos darstellt. Auch die Arbeiten der American Eccentrics, wie der Kritiker Armond White einmal die Regisseure Wes Anderson, Alexander Payne, David O. Russell und Todd Solondz genannt hat, verweisen eindeutig zurück auf das New Hollywood und seine exzentrischen Filmemacher. In Europa hat – und das ist eigentlich ein extrem faszinierendes Phänomen – eine ähnliche Rückbesinnung nicht stattgefunden. Einige der alten Meister, die schon damals die europäische Filmlandschaft mit ihrer Bildsprache geprägt haben, sind zwar immer noch aktiv und ihren einstigen Gewohnheiten so weit treu geblieben, dass ihr uvre jeweils einer Brücke in die Vergangenheit gleicht. Doch die meisten jungen Regisseure, also die, die in den vergangenen zehn oder zwölf Jahren angefangen haben, ihre Ideen auf Video oder Zelluloid zu bannen, scheinen sich für die Aufbrüche der 70er Jahre kaum zu interessieren. Wenn überhaupt haben sie eher Anschluss an den italienischen Neorealismus, an die Nouvelle Vague oder an das britische Free Cinema der frühen 60er Jahre gesucht. Einer der wenigen, der offenbar einen ganz anderen Weg geht, ist Pascal-Alex Vincent. Nach seinem Abschluss in Filmgeschichte hatte er erst einmal als Verleiher für japanische Filme in Frankreich gearbeitet, bevor er dann in den späten 90ern anfing, eigene Kurzfilme zu drehen. Mit seinem eindrucksvollem Langfilmdebüt, dem existentialistisch angehauchten Road Movie „Reich mir deine Hand“, kehrt er mit aller Macht zum Kino der 70er Jahre zurück. Aber er zollt seinen Vorbildern, die von Terrence Malick und Monte Hellman bis hin zu Wim Wenders und Patrice Chéreau reichen, nicht nur seinen Respekt. Er tritt tatsächlich in deren Fußstapfen.
So sehr sich die 18-jährigen Zwillinge Antoine (Alexandre Carril) und Quentin (Victor Carril) äußerlich auch ähneln, innerlich verbindet sie kaum etwas. Trotzdem sind sie bisher nicht voneinander losgekommen. In der provinziellen Enge ihres nordfranzösischen Heimatdorfs war das letztlich auch nicht möglich. So stehen sie seit Jahren in einem ständigen Konkurrenzkampf, der immer wieder zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen führt. Daran ändert sich auch nichts, als sie eines Morgens gemeinsam der Bäckerei ihres Vaters den Rücken kehren, um nach Nord-Spanien zur Beerdigung ihrer Mutter zu trampen. Sie haben die Verstorbene zwar nie kennen gelernt, aber gerade das macht diese Reise noch wichtiger für sie. Der Abschied von der Mutter ist für beide auch eine Suche nach der eigenen Identität, eine Chance, sich über Einiges klarzuwerden. Auf dem Weg durch Frankreich begegnen sie immer wieder Menschen wie der jungen Clementine (Anaïs Demoustier) oder dem Erntehelfer Hakim (Samir Harrag), die sofort in ihren Bann geraten. Doch je mehr sich die anderen um die Zwillinge bemühen, je näher sie ihnen kommen, desto weiter entfernen sich die Zwillingsbrüder Antoine und Quentin voneinander.
Wie aus der Zeit gefallen... Es gibt nicht einen Hinweis darauf, dass Pascal-Alex Vincents Erstling nicht heute, also im frühen 21. Jahrhundert, spielt. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass in seiner Welt die Zeit irgendwann einmal, wahrscheinlich in den 70er Jahren, einfach stehengeblieben ist. Die Autos und die Züge, die Kleidung und die Häuser, die Bahnhofscafés und selbst die Felder, sie alle scheinen noch aus einer anderen Epoche zu stammen. Obwohl bei Vincent von Paris nicht ein einziges Mal die Rede ist, erzählt er mehr darüber, was es heißt, in der Provinz der Republik zu leben, als alle anderen französischen Filme der vergangenen Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. Nicht Welten sondern gleich ganze Galaxien scheinen das Land von der Hauptstadt, die Dörfer von der Metropole, zu trennen. Und auch die Menschen hinterlassen einen anderen Eindruck. Sie passen nicht in die typischen Muster, die selbst noch von den meisten anderen im Hinterland spielenden Filmen bestätigt werden. Nicht einmal die Figuren Jean Beckers, dieses großen Filmpoeten der Provinz, umgibt eine derartige Aura der Fremdheit, wie sie von den Zwillingen und allen ausgeht, denen sie auf ihrer Reise begegnen.
Die Provinz, das Land abseits der großen Städte und damit auch abseits der Moderne, das war eben auch das Terrain der großen Road Movies der 70er Jahre. Terrence Malicks Badlands, Monte Hellmans „Asphaltrennen“ und Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“ waren allesamt Erkundungen von gleichsam aus der Zeit gefallenen Landschaften. Auf ihren Straßen und Wegen wirken Menschen automatisch immer ein wenig verloren. Der ewige Konflikt zwischen Natur und Zivilisation, also zwischen der Erde und denen, die sich auf ihr bewegen, ist im amerikanischen wie im bundesdeutschen Hinterland viel präsenter als in den Städten, in denen der Mensch vorerst gesiegt hat. Die ursprüngliche, die erhabene Schönheit der Natur, wie sie etwa Malick in seinen lyrischen Bildern besingt, hat dabei nichts Beruhigendes. Sie unterstreicht vielmehr den Eindruck, dass der geworfene, der letzten Endes heimatlose Mensch nichts als ein Störfaktor ist.
Pascal-Alex Vincent greift nun die durch und durch existentialistische Sicht seiner großen Vorbilder auf. Alex Kavychines Kamera schwelgt regelrecht in der Natur. Sie scheint das Licht der Sonne praktisch aufzusaugen und tilgt – soweit das möglich ist – alle Verweise auf Eingriffe von Menschenhand. Die Zivilisation ist an den Feldern und Wäldern, durch die Antoine und Quentin auf ihre Reise streifen, vorbeigegangen, ohne größere Spuren und Schäden zu hinterlassen. So wird die Natur zur idealen Bühne, auf der die beiden Brüder ihr Drama in seiner ganzen archaischen Gewalt austragen können.
Alleine der Anfang von „Reich mir deine Hand“ ist ganz und gar von heute. In einer etwa vierminütigen Animationssequenz führt Pascal-Alex Vincent die Zwillingsbrüder ein. In einem Stil der zugleich an japanische Mangas und amerikanische Independent-Comics erinnert, erzählt dieser als eine Art Prolog von Antoines und Quentins Flucht aus der bedrückenden Welt des Vaters. Als sie schließlich jenseits des Dorfes zu einem Bahnübergang kommen, springt der eine von ihnen ganz knapp vor einem Zug über die Schranke, der andere sieht nur entsetzt zu. Es scheint zwar noch einmal gut gegangen zu sein. Doch als der Zug durchgefahren und die Schranke wieder oben ist, fehlt von dem Wagemutigeren der beiden jede Spur. Wenig später springt er aus einem Gebüsch hervor, und es kommt zu einer kleinen Schlägerei. Dieser Beginn hat etwas Irritierendes, zumal Vincent das Stilmittel der Animation später nicht mehr aufgreifen wird. Lediglich Quentins Zeichnungen von seinem Bruder – auch sie sind im Stil der Mangas gehalten – verweisen noch auf diese Eingangssequenz. Vielleicht ist sie einfach seinem Kopf entsprungen. Vielleicht ist sie aber auch ein Verweis auf den mythischen, alles Psychologische weitgehend ausblendenden Charakter von Vincents Erzählung. Schließlich präsentiert er Antoine und Quentin nicht nur in der Anfangssequenz, in der von der Ähnlichkeit der beiden gezeichneten Charaktere beinahe schon etwas Unheimliches ausgeht, als archetypisches Zwillingspärchen, das in einem ewigen Konflikt aneinandergekettet zu sein scheint.
Gleich mehrmals bieten sich Antoine und Quentin auf ihrer Reise Gelegenheiten zu flüchtigen One-Night-Stands, die sie natürlich auch nicht verstreichen lassen. Doch im Endeffekt scheinen ihnen diese Begegnungen kaum etwas zu bedeuten. Sex ist für sie nur eine Art von Ventil ihrer latenten Rivalität. Gefühle investiert keiner von beiden, dafür sind sie einfach zu sehr aufeinander fixiert. Das Objekt der Eifersucht, die sich in Antoines Zügen andeutet, als Quentin mit Clementine schläft, ist ohne Zweifel der Bruder und nicht das Mädchen. Insofern stellt er nur wieder das frühere Gleichgewicht her, als er einige Stunden später auch mit Clementine schläft. Ein paar Tage danach wird diese Balance zwischen ihnen allerdings endgültig zerstört sein. Durch Zufall wird Antoine Zeuge, wie Quentin sich auf die sexuellen Avancen des Erntehelfers Hakim einlässt und in ihnen Momente des Glücks findet, die er zuvor nicht kannte. Die Möglichkeiten, die sich den Zwillingen in dieser kurzen Begegnung offenbaren, zerreißen zugleich auch das Band zwischen ihnen. Für Antoine ist Quentins Homosexualität etwas zutiefst Verstörendes, eine Bedrohung, die ihn zu einer in ihrer offenen Grausamkeit und Verachtung wahrhaft erschreckenden Handlung treibt. Für seinen Bruder erweist sich die plötzliche Klarheit über seine Begierden und Gefühle als Chance, endlich eine ganz eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wie für Patrice Chéreaus ist auch für Pascal-Alex Vincent die Frage nach der Identität eines Menschen unauflöslich mit seiner sexuellen Identität verbunden. Die Antwort auf die brennende Sehnsucht des in der Welt verloren dahin treibenden Menschen liegt in der Natur, der äußeren, die ihn umgibt, wie der in seinem Inneren.