Schon zwei Mal in kürzester Zeit geschaut und immer noch weit weg von einer klaren, eindeutigen Zahl. Aber jetzt ist die Zeit, sich endlich einige Gedanken diesbezüglich zu machen.
Von "Antichrist" erwartet man viel. Der Regiesseur, der Titel und natürlich der düstere, scheinbar unendlich tiefsinnige Satz "Nature is Satan´s Church". Und gerade der Prolog bringt zunächst alles das auf die Leinwand/auf den Bildschirm, was man sich heimlich von dem Film erhofft: Majestätische, epische und unendlich schöne Bilder, eine Gänsehautmusik, viel Intensität, viel Stil, noch mehr Provokation, noch mehr bösartige Ironie. Sechs Minuten, die wahrscheinlich jetzt schon fest in der Geschichte des Films stehen, als ein Beispiel für den perfekten Einstieg, wunderschön, krass, anmutig und sarkastisch zugleich. Schwarz-Weiß-Bilder und eine Ultrazeitlupe sind eben die Zutaten, die das Cineastenherz sofort höher schlagen lassen - und ihm im besten Fall gar ein Lächeln auf das Gesicht zaubern, aus einer unbekannten Quelle.
Danach war´s das erstmal mit der Schönheit des Beginns: "Antichrist" wird zu einem harten Beziehungsdrama, von Leid und Kummer durchtränkt und von zwei Extremen beherrscht, die im Verlaufe des Films an die Spitze getrieben werden: Einerseits das scheinbar irrationale Verhalten der Frau, die sich von ihren Gefühlen leiten und fressen lässt, und das überrationale Verhalten des Mannes, der stets besserwisserisch, nahezu arrogant auftritt und sich als den glaubt, der alles weiß und alles versteht. Selbstzerstörung zu Zerstörung des anderen und anschließend noch einige Rollenwechsel, fertig ist ein Geschlechterkampf, der jenseits von Gut und Böse liegt und oftmals mit ungeschönter physischer Härte trifft, der ihn in das Horrorgenre versetzt und damit auch sarkastische Züge beweist. Am Ende sind wir wieder bei der vermeintlichen Schönheit des Beginns angelangt - doch in diesen Grenzen lag irgendwo der pure Schrecken verborgen.
"Nature is Satan´s Church" sagt die Frau irgendwann im Film. Doch es ist anscheinend nicht die Natur, die die Wälder und Tiere beherrscht, die hier gemeint ist, sondern die Natur des Menschen, sein innerster Kern. Dessen Konflikt mit den gesellschaftlichen, sozialen, religiösen Konventionen, die von ihrem Mann verkörpert werden, gipfelt so bei der Frau in einem Strudel aus Sex und Gewalt, der nach und nach auch den Mann mitreißt. Nicht umsonst heißt der Ort des Geschehens im Film "Eden", ist das doch der Ort des friedvollen Zusammenlebens des Menschen mit der Natur gewesen. Hier wird die Natur jedoch nach und nach zu einem Spiegelbild der Gemütszustände des Menschen, die irrealen Ereignisse, die sich in ihr zutragen, verdeutlichen den Gegensatz zwischen der Natur als solche und der Natur des Menschen. Der Mensch als Träger des Satanischen bricht in die harmonische Ordnung der Natur ein und macht diese selbst zu einem Ort des Schreckens. "Chaos regiert!" spricht der Fuchs und weist damit darauf hin, dass die Geschichte kein gutes Ende nehmen wird.
Und wer oder was ist dann der titelgebende "Antichrist"? Es wäre eine Schande, wenn diesem so episch klingenden Wort nach dem Schauen dieses Films keine Bedeutung und kein Bild zugesprochen werden könnte. Eine Schande für den Film selsbt und auch eine Schande für die Interpretation des Zuschauers. Wo steckt also der Antichrist - ist er der Mann, der arrogante und eingebildete, oder doch die Frau, die manipulierbare und wilde? Ist es das Kind, das im gesamten Verlauf des Films nur ein Kind bleibt, nur ein Mittel zum Zweck - oder doch der grausame Katalysator, von einer höheren Macht dazu berufen, für Zwietracht zu sorgen? Oder ist der Antichrist die Natur selbst, dieses Grün, was die Ränder unserer Städte umgibt? Und an dieser Stelle will ich die Natur differenziert sehen: Denn "Eden" ist nicht die von Gott geschaffene Natur, sie ist das Spiegelbild des Menschen selbst, seine Perversion, die in eine höhere Ordnung bricht und diese ins Chaos umkehrt. Eden ist nicht Eden, nicht mehr - er ist der Hort der grenzenlosen Selbstsucht, der Verantwortungslosigkeit, der zerstörerischen Freiheit. Gar der selbstzerstörerischen - denn die Harmonie, die die Natur ansonsten durchströmt, löst eine Verzweiflung im Menschen aus, lässt ihn sich selbst als einen Übeltäter, als ein Wesen im Bund mit Satan sehen. In "Antichrist" wird der Mensch nicht aus dem Garten Eden verbannt - er selbst macht diesen Garten durch sein Wesen zur Hölle auf Erden, er selbst kehrt die Natur um zu seiner Natur, aus Ordnung wird Unordnung, aus Liebe Hass, aus Zufriedenheit Verzweiflung und aus Leben Tod. Der Antichrist, ist er also der Mensch selbst, ob in seiner Freiheit oder in seiner Beschränktheit? Gut möglich, aber auch nicht zwingend.
"Antichrist" ist ein Film zu Nachdenken und hier kann man sich auch nicht mit dem gewohnten Totschlagargument "Man kann den Film nicht verstehen, man muss ihn fühlen!" herausreden. Denn das, was man dabei zu fühlen vermag, ist zum großen Teil leer und diese Leere ist nicht die, die man mit beliebigen Dingen ausfüllen kann - sie ist die Leere, die ewig scheint und jeglichen Sinn außen vor lässt. Von einem "Genuss" kann ich selbst schlecht reden: Beim ersten Schauen suchte ich nach einem Sinn und beim zweiten war ich damit beschäftigt, den von mir erdachten darauf zu beziehen, was gerade auf dem Bildschirm passierte. Dabei ist ein gewisser Unterhaltungswert durch den Horroraspekt sogar gegeben, aber dennoch kommt der Film dermaßen bedeutungsschwanger und symbolüberfrachtet rüber, dass man sich förmlich zu einer reflexion gezwungen sieht. Gewidmet ist der Film Andrej Tarkowskij und auch dieser geizte bei seinen Werken nicht mit Symbolen, Andeutungen, Gedanken und Schlussfolgerungen. Aber wo Tarkowskij in seinen Filmen die Menschlichkeit als eine Quelle der Hoffnung darstellte, einer stillen, unscheinbare und schwachen, aber dennoch vorhandenen und letztendlich motivierenden Hoffnung, weidet sich Lars von Trier in "Antichrist" in seiner unbarmherzigen Depression. Selbst sein Humor ist so abgrundtief schwarz und so kontrastierend zum Rest, dass man ihn entweder nicht wahrnimmt oder, wenn doch, sofort wieder verdrängt, als ein unpassendes Stück, als einen Anflug von Sarkasmus, der alles (inklusive des Zuschauers) in ein Licht rückt, in welchem man sich auf keinen Fall befinden möchte. Jedenfalls nicht bei den ersten beiden Malen. Stattdessen sucht man verzweifelt in seinem Gehirn nach irgendwelchen Anhaltspunkten, die das Geschehen plausibel erscheinen lassen könnten, ob nun auf psychoanalytischer oder religiöser Ebene. Doch: "Chaos regiert!" spricht der Fuchs und setzt damit eigentlich jegliche Hoffnungen auf einen wirklichen Sinn außer Gefecht.
Denn der Film ist in seinem eigenen Kern das Chaos schlechthin. Lars von Triers Depression, seine Ängste, Komplexe, Wünsche, was auch immer, vereinigt mit dem Wunsch, sein großes Vorbild zu huldigen, ob nun in der Grundidee oder der Inszenierung, ergeben zusammen sein eigenes "Spiegel". Somit eine würdige Hommage an Tarkowskij, die ehrlich und schonungslos daherkommt - aber folglich auch ein Werk, das jeder Hoffnung beraubt ist, das mögliche Poesie in Anti-Poesie, jeglichen Sinn in einen Anti-Sinn umkehrt. "Antichrist" ist eigentlich ein Geschenk für jeden Psychoanalytiker, ein solcher würde den Film wohl auch auf seine richtigste Weise verstehen können. Aber Lars von Trier ist nicht nur ein oftmals sehr verstörter Mensch. Er ist einer, der in seinen Ängsten und Sorgen tatsächlich etwas Größeres tragen kann, möglicherweise, ohne es zu bemerken, zumindestens, ohne es selbst erklären zu können. Also zeigt er es einfach und schafft damit plötzlich nicht mehr nur seinen eigenen Spiegel, nicht nur ein Manifest seines eigenen Selbst, sondern auch einen Spiegel für den Zuschauer. Einen dreckigen Spiegel, der den, der hineinschaut, in einem Licht zeigt, das ganz und gar unvorteilhaft ist. Einen Spiegel, der unsere Angst gerne in ein diabolisches Grinsen verwandelt. Das gezeigte Chaos ist niemals glattpoliert, aber so schmutzig, dass es schon wieder glänzt und unseren Blick zurückwirft, leicht verzerrt, aber doch als unseren erkennbar. Und je tiefer man hineinsieht, desto mehr kommt zu einem zurück und desto erschreckender ist es.
Man muss sich mit diesem Film auseinandersetzen, man muss ihn überdenken, uminterpretieren, reflektieren. Man darf sich nicht von ihm manipulieren lassen - denn auch hier droht diese Gefahr, auch ein deprimierter Lars von Trier hat die Tricks aus "Dogville" oder "Manderlay" nicht verlernt und möglicherweise ist er gerade jetzt besonders darauf aus, seine Zuschauer zu Narren zu halten. Mich wahrscheinlich auch.
Aber seine Arroganz lässt sich doch bekämpfen: Mit der eigenen Arroganz, mit dem festen subjektiven Glauben daran, dass der eigene Blick hier weitaus mehr zählt als der des Regiesseurs, dass die eigene Meinung über seiner steht. Dass der Spiegel, den "Antichrist" darstellt, nicht Lars von Triers eigener Spiegel ist, sondern einer, den er unwissentlich für dich, für mich, für uns geschaffen hat. Mit dieser Arrogant kann man den Film mögen, man kann ihn als wichtig und tiefsinnig betrachten. Denn er sagt uns tatsächlich wichtige Dinge - wenn wir sie ihn sagen lassen.
Und sicherlich kann man jede von meinen Aussagen nochmal in ihr Gegenteil umkehren und man wird damit wahrscheinlich genauso richtig liegen wie ich - oder genauso falsch, je nach Sichtweise. Man muss sich schon dazu zwingen, ihn zu mögen oder gar zu lieben. "Antichrist" ist vieles - aber er ist doch weniger, als er sein könnte. Er ist erschreckend, aber er könnte auch erschreckender sein. Er bringt einen auf viele Gedanken, aber er könnte noch viel mehr verursachen. Dieser Film ist ambitioniert und er schafft es tatsächlich, in gewisse Abgründe vorzudringen, aber an gewissen Stellen will er doch Dinge, die nicht zu ihm passen. Dafür gibt es dann auch Punktabzug, für seine Nicht-Perfektion, die er hätte locker umgehen können. Aber er ist tatsächlich ein Erlebnis, welches man sich angetan haben sollte. Man kann ihn wunderbar interpretieren, man kann ihn noch wunderbarer hassen oder missverstehen - es ist für jeden etwas dabei.
Die Bedeutung eines Werkes ist nicht unbedingt die, die in ihm steckt - es ist oftmals die, die wir in diesem zu sehen vermögen. Und ich selbst sehe in "Antichrist" Dinge, für die ich doch dankbar bin. Und wenn sie nur einzig und alleine meinen Gedanken entstiegen sind - dann habe ich eben hiermit einen schönen Katalysator gefunden. Und das Wort "Antichrist" hat ab jetzt auch eine andere Bedeutung. Eine, die mich persönlich lächeln lässt. Und beim näheren Überlegen diese Lächeln immer bitterer werden lässt. Ja, Lars von Trier hasst oftmals, falls nicht immer, diese Welt - aber es steckt viel Hassenswertes in ihr und vieles übersehen wir doch gerne. Noch einen Schritt weiter und die Hoffnung wird endgültig sterben - die einzige, die dann noch bleiben würde, ist die, dass "Antichrist" doch eine Komödie ist. Aber diesen Schritt bewahre ich mir für den dritten Durchgang auf, glaube ich.