In grober Anlehnung an John Cassavetes’ „Gloria“ (1980) erzählt Regisseur und Drehbuch-Autor Erick Zonca („The Little Thief“) in seinem Film „Julia“ die Geschichte seiner gleichnamigen Protagonistin, die erst durch die Entführung eines Jungen selbstlose Gefühle in sich entdeckt. Tilda Swinton brilliert in der Hauptrolle des ungewöhnlichen, aber lange nicht immer stimmig erzählten Charakterdramas. Der Film lief im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2008.
Julia (Tilda Swinton), Alkoholikerin, Gelegenheitsnutte, notorische Lügnerin, hält sich mit kleinen Jobs über Wasser, die sie regelmäßig wegen ihrer Unzuverlässigkeit wieder verliert. Viele Freunde hat die 40-Jährige schon lange keine mehr, lediglich ihr alter Kumpel Mitch (Saul Rubinek) hält noch zu ihr. Bei den Anonymen Alkoholikern lernt Julia Elena (Kate del Castello) kennen. Aufgrund psychischer Probleme hat die junge Mexikanerin das Sorgerecht für ihren Sohn Tom (Aidan Gould) verloren, der jetzt bei seinem reichen Großvater wohnt. Elena bietet Julia viel Geld, wenn sie ihr hilft, den Jungen zurück zu bekommen. Zunächst will Julia mit der Sache nichts zu tun haben. Doch dann kommt ihr eine Idee. Was wäre, wenn sie den Jungen einfach für sich selbst entführt und Lösegeld kassiert?
Die schottische Schauspielerin Swinton gab ihr Debüt 1986 in Derek Jarmans Caravaggio und machte seitdem – zunächst in kleineren Produktionen – immer wieder positiv auf sich aufmerksam. Ihr internationaler Durchbruch gelang ihr mit dem Sally-Potter-Film „Orlando“, nach dem Roman von Virginia Woolf. Weitere größere Rollen spielte sie in Adaption, Constanine oder auch Die Chroniken von Narnia: Der König von Narnia, zuletzt konnte Swinton einen Oscar für die beste Nebenrolle in Michael Clayton gewinnen. In Erick Zoncas Film bekommt der Zuschauer nun die Chance, die begabte Schottin in einer an die Substanz gehenden Hauptrolle zu erleben. „Julia“ – das sind 138 Minuten Tilda Swinton pur.
Gleich von Beginn an wird der Zuschauer unweigerlich in die schmutzige Welt der Hauptfigur gerissen. Die ist zwar dank Kameramann Yorick Le Saux toll gefilmt, aber nicht schön anzusehen: Wir erleben Julia im Suff, beim Sex mit Unbekannten und am Morgen danach, wenn sie mit staksigen Schritten einen Ort sucht, an dem sie ihren Rausch ausschlafen kann. Swinton spielt die Asympathin Julia bedingungslos, bis an die Grenze und darüber hinaus. Es ist nicht immer angenehm, Julia bei ihrem Treiben zuzusehen, schon anfangs als die Figur eingeführt wird, doch vor allem nach der dilettantischen Entführung des Jungen Tom. Auch wenn sich bereits früh erahnen lässt, dass der Junge ein anderes Gesicht an der Egomanin zum Vorschein bringen wird, ist es doch erstaunlich, mit welcher Konsequenz Erick Zonca die Gefühlskälte seiner Protagonistin hier zunächst ausformuliert. Sie sperrt ihn in den Kofferraum ihres Wagens oder lässt ihn grob gefesselt und geknebelt in einer Hoteldusche übernachten. Julia empfindet kein Mitleid, zumindest zunächst.
Mit dem Auftauchen des Jungen scheint den Regisseur und Autor dann aber immer mehr der Mut zu verlassen, die anfängliche Kompromisslosigkeit beizubehalten. Zonca will es so, dass Julia sich langsam vom Saulus Richtung Paulus bewegt. Hier macht sich das erste und grundsätzliche Problem des Films bemerkbar. Das Grundthema, die Wandlung der Protagonistin, angestoßen durch Julias Zusammentreffen mit ihrem Entführungsopfer, ist zwar ein Klischee, aber das könnte noch akzeptiert werden. Doch Aidan Gould, der den jungen Tom spielt, kann so wenig als glaubwürdiger Grund für Julias Sinneswandel überzeugen, dass die ganze weitere Kartenhaus-Konstruktion mindestens heftig wackelt. Das liegt weniger an dem alles andere als berauschenden Schauspiel des 1997 in Columbus, USA, geborenen Nachwuchsdarstellers, sondern einfach daran, dass es der Film schlicht versäumt, die Beziehung zwischen Entführerin und Opfer durch eine halbwegs überzeugende Geschichte aufzubauen, anstatt sie einfach zu behaupten.
Ein weiteres Minus: Nach dem Eintreffen in Mexiko verliert „Julia“ rasant an Glaubwürdigkeit. Wirklich plausibel waren weder die absurde Entführung noch die folgenden Verhandlungen mit dem Großvater. Doch dass Tom jenseits der Grenze ein weiteres Mal entführt wird, ist doch eine Kapriole zu viel. Ein Charakterporträt, das sich mit gelegentlich komödiantischen Einschüben zum Entführungsdrama und schließlich Road Movie gewandelt hat, will auf den letzten Metern auch noch Gangsterthriller werden. Das ist kurz spannend, fügt sich aber in die restliche Geschichte nicht gut ein. Mit welch leichter Hand Erick Zonca die Genres aneinanderreiht, ist zwar bemerkenswert und ungewöhnlich, erzeugt aber insgesamt eher den Eindruck von Unentschiedenheit und ist von wenig Gewinn für die Geschichte.
Und unterm Strich? „Julia“ hat nicht wenige Längen, die Moral des Films schmeckt abgestanden, die Story wirkt nicht ausgereift und Aidan Gould war definitiv nicht die richtige Wahl. Und die Liste der Kritikpunkte könnte noch fortgesetzt werden. Ist „Julia“ deswegen also ein völliger Fehlschlag geworden? Klare Antwort: Nein. Auch wenn der Film mit seinen 138 Minuten zu lang geraten ist, hat er immer wieder starke Momente und weiß phasenweise zu fesseln. Und am Ende bleibt vor allem der Eindruck einer sich überwältigend verausgabenden Tilda Swinton. Swinton zieht als Julia in den Bann. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der so manchen Kritikpunkt nichtig erscheinen lässt.