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    Geraubte Küsse
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Geraubte Küsse
    Von Gregor Torinus

    François Truffaut drehte die Liebeskomödie „Geraubte Küsse" im Jahr 1968. Der Film bildet den dritten Teil seines berühmten Zyklus, in dem Jean-Pierre Léaud die Figur des Antoine Doinel verkörpert, die ein fiktives Alter Ego des Regisseurs darstellt. Bereits Truffauts erster Spielfilm „Sie küssten und sie schlugen ihn" (1959) zeigte die Kindheit Antoine Doinels. Es folgte der Kurzfilm „Antoine und Colette" - Truffauts Beitrag zu dem internationalen Omnibusfilm „Liebe mit Zwanzig" (1962) – der eine Episode aus Antoines Jugend zeigt. „Geraubte Küsse" ist der Mittelteil aus der Reihe. Er zeigt Antoine an der Schwelle zum Erwachsenendasein, welche er bei den folgenden Filmen „Tisch und Bett" (1970) und „Liebe auf der Flucht" (1979) bereits überschritten hat. Als zentrale Folge dieser Serie ist die sensible Außenseiterkomödie „Geraubte Küsse" von besonderem Interesse, da sich hier die verschiedenen Aspekte von Antione Doinels Leben in einer Übergangsphase treffen.

    Antoine hatte sich ursprünglich für drei Jahre Militärdienst verpflichtet. Doch mit seiner offen zur Schau gestellten Unlust provoziert er bewusst seine vorzeitige unehrenhafte Entlassung aus der Armee. Die Eltern seiner Freundin Christine (Claude Jade) verschaffen ihm einen Job als Nachtportier in einem Hotel am Montmartre. Den verliert Antoine jedoch sofort wieder, nachdem er einem Privatdetektiv Zugang zu einem Hotelzimmer verschafft, wo dieser einen Gast beim Ehebruch ertappt. Dafür empfiehlt der Detektiv direkt nach diesem Vorfall Antoine bei seiner Detektei, die den ebenso umtriebigen wie ahnungslosen Neuling sofort einstellt. Doch auch dies wird noch nicht Antoines letzte Beschäftigung gewesen sein.

    „Geraubte Küsse" zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Leichtigkeit aus, wie sie in dieser Art wohl nur François Truffaut in seinen Filmen – und ganz besonders in dem Zyklus um Antoine Doinel – herstellen konnte. In diesem Film ist Antoine noch immer der sorglose Pfiffikus aus den vorhergehenden Teilen der Serie. Der Filmjournalist Ulrich Behrens etwa sieht in dem Protagonisten sogar einen frühen Vertreter des radikalen Individualismus, während andere Kritiker die mangelnde Entwicklung und den pubertären Trotz der Figur kritisierten. Prinzipiell haben beide Sichtweisen ihre Berechtigung: Antoine entzieht sich einfach allen Festlegungen, wofür seine Jobodyssee exemplarisch steht. Er hat kein Interesse, einem festen Pfad zu folgen, sondern will das Leben als junger Erwachsener in vollen Zügen genießen.

    Aber ist Antoine dadurch wirklich gleich ein Vertreter einer neuen Zeit? Um solche Dinge wird sich der bekennend apolitische Truffaut wohl kaum Gedanken gemacht haben. So fehlt trotz der Entstehung im Jahre 1968 jede Anspielung auf die Studentenunruhen. Den Regisseur beschäftigte zu dieser Zeit viel mehr die Entlassung von Henri Langlois, dem Leiters der Cinémathèque française, aus seinem Amt. Tatsächlich war Truffaut dermaßen in die Protestaktionen gegen diesen Rauswurf involviert, dass „Geraubte Küsse" fast wie nebenher entstand. Dies zeigt, weshalb die Figur des Antoine Doinel das Alter Ego des Regisseurs ist: Die Art, wie sich Antoine ohne viel Reflektion, aber dafür mit sicherem Gespür für den Weg, den er persönlich gehen will, durchs Leben wurschtelt, ist der des Schöpfers des Films gar nicht so unähnlich. So wies Truffaut zu „Sie küssten und sie schlugen ihn" darauf hin, dass er selbst im Alter des Protagonisten möglichst schnell erwachsen werden habe wollen. Allerdings lag seine Motivation nicht in dem Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, sondern in der Einsicht, dass er dann all die Dinge unbehelligt tun könne, für die er als Jugendlicher noch bestraft wurde. Diese Lebensnähe, die persönliche Erfahrung, die humorvoll und ohne Bitternis, aber dennoch ernsthaft Eingang in jede Einstellung gefunden hat, macht „Geraubte Küsse" zu einem außergewöhnlichen Vertreter des Coming-Of-Age-Dramas.

    Fazit: Im Mittelteil seines Zyklus um Antoine Doinel stellt Truffaut einmal mehr seine genaue Beobachtungsgabe, den Realismus seiner Arbeiten und seine Fähigkeit unter Beweis, ein universelles Thema leicht und dennoch nicht leichtfertig zu inszenieren.

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