Viele haben noch nie etwas von Mumbai gehört. Obwohl Mumbai die bevölkerungsreichste Stadt der Welt ist - wenn Vororte nicht mitgezählt würden. Die Dokumentation „Between The Lines – Indiens drittes Geschlecht“ von Journalist Thomas Wartmann spielt übrigens in Mumbai. Oder sollte ich sagen in Bombay? Seit der Kolonialisierung bis 1995 hieß Mumbai Bombay. Auch mehr als zehn Jahre nach der Namensänderung wird in deutschen Medien häufig von Bombay gesprochen. Der Grund: Der Name „Mumbai“ leitet sich von einer hinduistischen Gottheit ab und sei eine Diskriminierung für die Sikhs und Moslems in der Stadt.
„Between The Lines“ beschäftigt sich mir einer anderen vernachlässigten Bevölkerungsgruppe von Mumbai: den Hijras. Der Titel der Dokumentation deutet es bereits an: Weder als Mann noch als Frau wollen die Hijras bezeichnet werden. Beides empfinden sie als Beleidigung. Sie sind etwas Drittes, Einzigartiges. Doch diese Einzigartigkeit bringt Probleme mit sich: Ausschluss aus der Familie, leben in verarmten Wirtschaftsgemeinschaften aus Gurus und Chelas (Hirja-Schülerinnen). Was eine Person letztendlich zur Hijras macht, ist nicht eindeutig. Viele tragen Frauenkleidung, die meisten sind kastriert. Manche wurden als Männer geboren, andere als Hermaphroditen. Eins haben sie alle gemeinsam: Sie leben am Rande der Gesellschaft. Viele arbeiten als Prostituierte. Traditionell verdienen Hijras ihr Geld durch das Segnen von Neugeborenen und das Tanzen auf Hochzeiten. Man glaubt, dass sie trotz ihrer eigenen Unfruchtbarkeit die Fähigkeit haben, Fruchtbarkeit zu spenden.
Thomas Wartmanns Dokumentation „Between The Lines“ gibt dem Zuschauer faszinierende Einblicke in eine Welt der Widersprüche. Die wirklich interessanten Fragen bleiben jedoch oft unbeantwortet. Wie werden Hijras überhaupt zu dem, was sie sind? Warum wollen sie kastriert werden? Oder von wem und aus welchem Grund wurden sie entmannt? Wartmann kann nur mit Hilfe der indischen Fotografin Anita Khemka seine Expedition in die Gemeinschaft der Hijras antreten. Besonders Männer sind dort nicht gern gesehen - schließlich sind sie potentielle Kunden der Hijras. Die Fokussierung auf drei Hijras, die Anita Khemka kennen lernt und die sie mehr und mehr ins Vertrauen ziehen, verleiht der Dokumentation viel Unmittelbarkeit und persönliche Nähe. Angesichts dieser detaillierten Porträts bleibt das große Ganze oft außen vor. Das ist zwar zu keinem Zeitpunkt langweilig. Aber das Gefühl, dass man viel mehr hätte wissen wollen, bleibt am Ende stärker in Erinnerung, als die vielen authentischen Momentaufnahmen.
Als emanzipierte Frau in der Bollywood-bunten Welt der Hijras wirkt Anita Khemka paradoxer Weise weniger weiblich, als die meisten Hijras. Hinter den Make-up-Masken und farbenprächtigen Saris ist die Welt der Hijras weitaus weniger glamourös, als die Outfits der Protagonistinnen uns glauben machen wollen: Asha ist seit 17 Jahren Prostituierte. Außerdem segnet sie an den Stränden Mumbais verliebte Paare gegen Bares. Wer nicht zahlen will, den verflucht sie. Im Gegensatz zur verbitterten Asha sieht die junge Rhamba aus wie ein Model. Sie wurde zwar als Mann geboren, aber schon als 10-Jähriger kastriert, so dass sie wie eine junge Frau aussieht. Rhamba verdient ihr Geld durch Betteln und als Go-Go-Tänzerin. Sie hofft, bald genug gespart zu haben, um ihren Freund heiraten zu können. Laxmi führt ein Doppelleben. Für ihre Eltern ist er der junge Choreograph Raju, der sich wie ein Mann kleidet und sich nur etwas seltsam verhält. Außerhalb der elterlichen Wohnung verwandelt er sich in Laxmi – eine laute extrovertierte Hijra, die einer Gemeinschaft als Guru vorsteht. Die Momente mit Laxmi sind die Stärksten der Dokumentation. Er ist gefangen zwischen dem Pflichtgefühl seinen Eltern gegenüber und der Welt der Hijras, die er gleichzeitig liebt und hasst: „Es ist, wie jeden morgen im Paradies aufwachen“, sagt er mit Tränen in den Augen. Anfänglich baut er sich noch - die Hände in die Hüften stemmend - vor Anita auf und sagt voller Selbstbewusstsein: „Ich liebe meine Identität!“
Im Laufe der Dokumentation werden er und die anderen Hijras wie Zwiebeln Schicht um Schicht geschält, bis runter auf den emotionalen Kern, der mehr offenbart, als der schützende Kokon aus vorgetäuschter Weiblichkeit zunächst zeigt. Knallrote Lippen und Kleopatra-Lidstrich können es nicht verbergen: Das Leben der Hijras ist voller Not und Verzweiflung. Das Geld zum Leben fehlt an allen Ecken und Enden. Für die Männer sind sie nur Objekte und das scheint Laxmi auch nicht zu stören: „Wir reden nicht über Romantik, für uns bedeutet Sex nicht so viel und wir wissen, dass der Mann nicht das ganze Leben mit uns verbringen wird.“ Deswegen kämen so viele Männer zu den Hijras. Asha redet sogar von 90 Prozent. Ob das wirklich so ist, darauf hat „Between The Lines“ keine Antwort. Was passiert, wenn eine Hijra sich in einen der Freier verliebt, wird in vielen Variationen erzählt: Rhamba wird ihren Freund – der ganz nebenbei auch noch Frau und Kinder hat – zwar demnächst heiraten. Aber wirklich verlassen kann sie sich nur auf die Hijras in ihrer Gemeinschaft. Und Asha hat einen anderen Grund, sich den Liebespaaren zu widmen, als man zunächst vermutet...
Etwas nervig ist die deutschen Synchronisation von Anita Khemka im Stile importierter MTV-Sendungen. Die deutsche Übersetzung wurde einfach über das englische Original gesprochen. Das ist zwar auch bei Fernsehbeiträgen üblich, doch beschränkt es sich dort auf O-Töne von wenigen Sekunden. Die längeren Ausführungen der Erzählerin hätten ohne die hörbare Originaltonspur sicher mehr Eindringlichkeit gehabt. Stilistisch schön sind die eingebauten Fotos von Anita Khemka. Besonders Rajus Verwandlung in Laxmi wird in faszinierenden Bildern gezeigt.
Fazit: Die Farbenpracht der Bilder und die sehr persönlichen Porträts der Protagonistinnen machen „Between The Lines“ zu einer interessanten Dokumentation. Der Reichtum an Details versperrt jedoch oft den Blick auf das große Ganzen. Die Welt der Hijras ist voll von Fragen. Und als ob Thomas Wartmann uns einen Teil dieser verwirrenden Welt mit auf den Weg geben wollte, verlassen auch wir den Kinosaal voller Fragezeichen. Mit etwas mehr Hintergrundinformationen hätten daraus vielleicht Ausrufezeichen werden können...