Kenneth Branagh ist vornehmlich auf Shakespeare-Verfilmungen abonniert. Ab und an widmet sich der Regisseur und Schauspieler jedoch auch mal einer Komödie. Oder eben einer „werkgetreuen“ Version von „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ von Mary Shelley. Im Gegensatz zu den üblichen Adaptionen der weltbekannten Buchvorlage dreht sich das Drehbuch zu „Mary Shelleys Frankenstein“ weniger um die Kreatur, sondern vor allem um den durchtriebenen Wissenschaftler Victor Frankenstein. Einen Oscar für die Masken bekam das interessante Drama von 1994 zu Recht. Doch beim Drehbuch hapert es ein wenig: Zwar stimmt in den ersten beiden Dritteln die Dramaturgie, später jedoch schleichen sich zunehmend Längen ein, da nicht mehr so stringent wie zuvor erzählt wird.
Im 18. Jahrhundert möchte der Medizinstudent Victor Frankenstein (Kenneth Branagh) gerne seinen Wissenschaftszweig revolutionieren. Der Schweizer hat schon vor dem Studium viele Theoretiker gelesen. Nun glaubt er, mit einer Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaften etwas Neues, eine revolutionäre Medizin erschaffen zu können. Damit möchte er das Leben beherrschen. Es gelingt ihm, eine Kreatur (Robert De Niro) aus verschiedenen menschlichen Versatzstücken zusammenzuflicken und zum Leben zu erwecken. Doch am nächsten Morgen fehlt jede Spur von Frankensteins Geschöpf. Er hofft, es sei der Cholera-Epidemie in der Stadt zum Opfer gefallen. Doch wieder zu Hause in Genf muss er nach einem tragischen Ereignis feststellen, dass sich seine Kreatur auf der Suche nach ihrem Schöpfer befindet.
Die Grundidee der Frankenstein-Vorlage liegt unter anderem in der Beschreibung der faszinierenden Idee des schöpferischen Mensches. Wie tragisch dieses Schöpfertum jedoch zum Scheitern verurteilt ist, zeigt sich dann im späteren Verlauf der Handlung. Der Charakter des Frankenstein lässt sich mit dem durchschnittlichen Bond-Bösewicht vergleichen: durchgeknallt, besessen und irrsinnig. Gerade der Fokus auf diese Figur macht „Mary Shelleys Frankenstein“ zu einer der besseren Verfilmungen des Romans. Denn Kenneth Branagh steht die meiste Zeit über selbst im Mittelpunkt der Geschichte: Zunächst will er den Beruf seines Vaters erlernen, dann noch höher hinaus. Doch als er das erreicht hat, geht es stetig bergab. Sehenden Auges lässt er seine Beziehung zu Elizabeth (Helena Bonham Carter), seiner versprochenen Ehefrau, zu Grunde gehen.
Von der Vorlage unterscheidet sich Branaghs Version trotz der beabsichtigten Nähe am Roman: Die Kreatur sieht etwas menschlicher aus, als dort beschrieben. Statt gelblicher Haut, sichtbaren Adern und schwarzem Haar trägt das Wesen eine Glatze und eine Vielzahl von Narben im Gesicht. Spoiler: Außerdem hat Frankenstein Elizabeth im Buch nicht wieder ins Leben zurückgeholt. Eine weibliche Version seiner Kreatur, die diese sich sehnlichst wünscht, schafft er – im Gegensatz zu Vorlage – ebenfalls nicht. Spoiler Ende. Doch insgesamt fällt auf, dass die Kreatur in nur wenigen Szenen allein im Vordergrund steht. Nur um ihre Charakterentwicklung voranzutreiben, zeigt Branagh eine kurze Episode, in der die Kreatur in einem Schweinestall einer Familie übernachtet. Hier wird allerdings deutlich, dass es sich bei dem Wesen keinesfalls um ein Monster handelt. Stattdessen ist es ein intelligentes Wesen, dass sich jedoch von der Menschheit durch sein Äußeres verstoßen fühlt.
Schauspielerisch ist „Mary Shelleys Frankenstein“ durchweg gelungen. Auch wenn manche Szene zwischen Frankenstein und Elizabeth etwas sehr dramatisch anmutet: Branagh bedient sich hier offenbar bei Shakespeare; außerdem gehört derartig packende Liebe praktisch zwingend zu einem Kostümfilm. Der Regisseur selbst macht insgesamt eine sehr gute Figur. Den zwischen Wissenschaft und Liebe hin- und hergerissenen Frankenstein kauft der Zuschauer ihm ab. Robert de Niro ist eine grandiose Wahl für die Kreatur. Selten spielte er in dieser Zeit derart menschliche Charaktere, die so viel Gefühl zeigten. Kaum ein anderer Darsteller hätte trotz der hässlichen Maske so viel Sympathie und Verständnis hervorrufen können. Die dritte Hauptrolle ist mit Helena Bonham Carter (Fight Club, Planet der Affen) ebenfalls sehr gut besetzt. Als verzweifelte Verlobte, die Frankenstein von seinem Wahnsinn befreien möchte, hat sie den Zuschauer ebenfalls auf ihrer Seite.
Francis Ford Coppola produzierte die relativ werkgetreue Frankenstein-Version. Mit Bram Stokers Dracula hatte er sich kurz zuvor selbst einem vergleichbaren Stoff angenommen. Kenneth Branagh war bisher vier Mal für den Regie-Oscar nominiert. Ohne Zweifel zeigt sich auch bei „Mary Shelleys Frankenstein“, dass er nahezu ein Garant für überdurchschnittliche Filmkost ist. Doch leider schleichen sich in der zweiten Hälfte zunehmend einige Passagen ein, die gekürzt oder komprimierter erzählt spannender geworden wären. Denn der Film verliert seine stringente Handlung durch wechselnde Passagen mit der Kreatur und Frankenstein. Eine dichtere Erzählweise in diesem Teil hätte den Film wesentlich stärken können. Nichtsdestotrotz ist er packende Unterhaltung.