Der Aufschrei der kleinen aber feinen Fangemeinde Woody Allens war groß, als der Constantin Filmverleih ankündigte, „Cassandras Traum“, den diesjährigen Film des Meisters, nicht in die Kinos zu bringen, sondern schändlich Direct-to-DVD zu veröffentlichen. Solch eine erniedrigende Leinwandverweigerung musste der Ur-New-Yorker in Deutschland zuletzt 2002 mit „Hollywood Ending“ über sich ergehen lassen. Was nun im Endeffekt den Ausschlag für Constantins Meinungsumschlag gab, ist unwichtig. Dem Verleih gebührt auf jeden Fall ein Lob, denn kommerziell ist der US-Totalflop (Einspiel: eine Million Dollar) auch hierzulande chancenlos und eine Absetzung wäre daher zumindest aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten nachvollziehbar. Doch es greift wieder einmal die alte Regel: Selbst ein schwächerer Allen-Film, und ein solcher ist das Krimi-Melodram „Cassandras Traum“, hebt sich immer noch positiv vom Durchschnitt ab.
Zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, im Working-Class-London der Neuzeit: Ian (Ewan McGregor) hilft seinem Vater (John Benfield) bei der Führung eines Restaurants, träumt insgeheim aber von einer großen Zukunft als Hotel-Investor in Kalifornien. Terry (Colin Farrell) arbeitet als Mechaniker in einer Werkstatt, liebt Hundewetten, Poker, Whiskey und Zigaretten. Was die beiden neben der unzertrennlichen Familienbande bald einen wird: Sie haben akuten Geldbedarf. Ian hat sich in die bildhübsche, luxusverzehrende Theater-Schauspielerin Angela (Hayley Atwell) verliebt und gibt für sie den solventen Geschäftsmann. Um seinen Worten auch Taten folgen zu lassen, benötigt er 100.000 Pfund für die Investitionen in den USA. Richtig in der Bredouille steckt jedoch Terry. Nach einer anfänglichen Erfolgssträhne verlässt ihn das Glück und er manövriert sich beim Pokern in 90.000 Pfund Schulden. Eine Lösung des Dilemmas erscheint in Form von Onkel Howard (Tom Wilkinson). Dieser ist als Schönheitschirurg in Amerika zum Millionär aufgestiegen… und hat sich zum Besuch in London angesagt. Aber Howard plagt selbst ein monströses Problem: Sein Partner Martin Burns (Philip Davis) könnte ihn mit einer belastenden Aussage für lange Zeit ins Gefängnis bringen. Und da Onkel Howard nicht zimperlich ist, bittet er seine beiden Neffen um einen Gefallen, der das Leben aller Beteiligten für immer verändern wird…
Wer sich im Werk von Woody Allen auskennt, befindet sich bei „Cassandras Traum“ sowohl im Vor- als auch im Nachteil. Welchen Verlauf die Geschichte nehmen wird, ist für Fans schnell absehbar. Anderseits irritieren den geneigten Allen-Kenner die vielen kleinen Logikungereimtheiten nicht, mit denen die Handlung vollgestopft ist – schließlich ist auch dieser Film mehr Parabel als real abgebildetes Leben. Natürlich sind die Brüder Ian und Terry keine aus dem prallen Alltag gerissenen Figuren, sondern lupenreine Konstrukte der Allen‘schen Phantasie – quasi eine Draufsicht auf die Arbeiterklasse aus der Perspektive der Upper Class und Intellektuellen. Das gibt Ewan McGregor (Trainspotting, Star Wars: Episode 1-3) und Colin Farrell (Brügge sehen... und sterben?, Miami Vice, Alexander) die Gelegenheit, sich abseits vom Mainstream, der sie mitunter zu verzehren drohte [1], die Seele aus dem Leib zu spielen. Ein Ire (Farrell) und ein Schotte (McGregor) wetteifern um die beste Interpretation eines Cockney-Dialekts. Im Stil von Theaterschauspielern exerzieren sie ihren Part durch und setzen so positive Akzente.
Beide Charaktere sind weit davon entfernt, Identifikationspotenzial zu bieten. Doch bei der reservierten Haltung Allens zu seinem Publikum stört das nicht unbedingt. Das Fehlen von Sympathieträgern ist generell nicht wirklich kriegsentscheidend, wenn die Figuren dennoch interessant sind. Und das gilt für Ian und Terry schon – auch wenn sie am Ende lebensüberhöht daherkommen. Der unverwüstliche Tom Wilkinson (Geliebte Lügen, Michael Clayton, Batman Begins) passt mit seinem famos-großspurigen Auftritt gut ins Bild. Schade, dass seine Szenen rar gesät sind. Auch Hayley Atwell vermag ihrer zickigen Grazie die nötige Größe zu geben, um dem Möchtegern Ian glaubhaft den Kopf zu verdrehen.
So weit ist also alles im Lot, deshalb verwundert eine Schwäche von „Cassandras Traum“ doch nachhaltig. Die Dialoge bewegen sich nicht auf dem Niveau, das Regisseur und Autor Woody Allen für gewöhnlich garantiert. Es schleichen sich hier und da Trivialitäten und Plattitüden sein. Vielleicht liegt es daran, dass der Filmemacher im Arbeitermilieu nicht trittsicher genug ist und Allen sein Schreiben mittlerweile derart verselbstständigt hat, dass frischer Wind zwangsläufig zum lauen Lüftchen abflaut. Die Verankerung der übermächtigen griechischen Tragödie im Working-Class-Umfeld gelingt Allen nicht in voller Breite. Überhaupt bricht er optisch ständig aus dem Sujet, das er porträtieren will, aus und zeigt stattdessen oft London-Äquivalente seiner früheren New-York-Bilder.
Fazit: „Cassandras Traum“ ist gewiss kein schlechter Film, sogar einer, der über dem Durchschnitt anzusiedeln ist, dafür trägt allein schon das großartige Schauspiel Sorge. Dennoch zählt das Thriller-Drama zu den schwächsten Allen-Filmen. Gerade im Vergleich zu seinem eigenen, thematisch ganz ähnlich angelegten Meisterwerk Verbrechen und andere Kleinigkeiten fällt der neueste Output des ewigen Stadtneurotikers deutlich ab. Aber auch das Messen in der Veteranenklasse verliert Allen. Schließlich ging Oldtimer Sidney Lumet kürzlich in Tödliche Entscheidung - Before The Devil Knows You’re Dead mit nahezu identischer Storyprämisse an den Start und legte ein vor Kraft und Vitalität nur so strotzendes Werk vor. Bleibt zu hoffen, dass Allen mit dem neuerlichen Ortswechsel nach Spanien für seinen nächsten Film Vicky Cristina Barcelona neue Impulse erhält, wie dies beim gefeierten Match Point, seinem ersten von mittlerweile drei London-Filmen, der Fall war.
[1] „I think, I did as many takes for this whole film as I did for one scene in Miami Vice." (Colin Farrell in einem Interview über die Arbeitsweisen der Regisseure Woody Allen und Michael Mann)