Der englische Regisseur Ben Hopkins sollte seit seinem außergewöhnlichen zweiten Spielfilm „Die neun Leben des Tomas Katz“ aus dem Jahr 2000 auch deutschen Programmkinobesuchern ein Begriff sein. (Die Betonung muss wohl leider auf sollte liegen.) Sein neuestes Werk „37 Uses For A Dead Sheep“ war dieses Jahr schon im Forum der Berlinale zu sehen.
Es ist ein Dokumentarfilm über die Pamir-Kirgisen, einen heute 2000 Menschen zählenden Nomadenstamm aus dem Pamir im heutigen Afghanistan. So könnte man es zumindest ausdrücken. Doch das wäre höchstens zur Hälfte richtig. Denn dieser Film ist ein Historienfilm und eine Komödie. Er ist ein Spiel mit dem Medium Film und eine Tragödie über den Untergang einer Kultur. Er erzählt nichts Geringeres als die Geschichte eines Exodus von im Grunde biblischen Ausmaßen, der erst vor 110 Jahren begann, vor 27 Jahren im ost-anatolischen Exil endete und eigentlich nie jemanden interessiert hat. „37 Uses For A Dead Sheep“ ist natürlich doch auch ein Dokumentarfilm. Allerdings weniger einer über als vielmehr mit den Pamir-Kirgisen und ganz wesentlich auch über die Begegnung zwischen ihnen und dem englisch-türkischen Filmteam.
Von ihrer Geschichte im Widerstand gegen und auf der Flucht vor den kommunistischen Regierungen in Russland, China und schließlich Afghanistan berichten die Pamir-Kirgisen nicht nur in Interviews. Zusammen mit Ben Hopkins und seinem Filmteam setzen sie sie auch in Spielfilmszenen um. Diese Szenen sind ebenso Teil des Films wie die Arbeit an ihnen. Das Ganze ergibt ein sehr vielschichtiges und aussagekräftiges Porträt. Das filmische Konzept bleibt keine reine experimentelle Spielerei, sondern ist in mehrfacher Hinsicht sehr erhellend. Der wichtigste Punkt ist der, dass die Pamir-Kirgisen vom Gegenstand der Betrachtung zu äußerst lebendigen Akteuren werden. Es gibt keine scheinbar objektive Draufsicht, mit der „uns“ „die anderen“ als Exoten präsentiert werden. Hopkins macht nicht den allwissenden Erzähler, sondern den Ich-Erzähler. Einen, der als Nebenfigur ins Geschehen involviert ist, keine Dampfwalze von Michael Mooreschen Ausmaßen, die den Film autokratisch regiert und alle anderen Beteiligten als Stichwortgeber oder Witzfiguren nutzt (was auch seinen Reiz haben kann). Hopkins braucht einen Egotrip genauso wenig wie künstliche Distanz.
Der Spaß der Beteiligten an der gemeinsamen Arbeit überträgt sich auf die Zuschauer und macht den Film schlicht und einfach unterhaltsam. Vor allen Dingen entsteht eine ganz andere Gesprächsbasis. Die Menschen in diesem Film erlauben sich mehr Offenheit, Humor und Charme als man es aus anderen Dokumentationen gewöhnt ist. Und sie haben viel zu sagen und zu zeigen. Ob schelmisch ein Vokabeltest über die 37 Verwendungsweisen eines toten Schafes inszeniert wird (was ganz nebenbei etwas über Überlebensstrategien unter lebensfeindlichen Bedingungen verrät), oder gleich demonstriert, dass sich so ein Tier sogar hervorragend als Polospielball gebrauchen lässt. Oder ob es darum geht, wie man existieren kann, wenn jedes zweite Kind, das auf die Welt kommt, kurz nach der Geburt stirbt. Beides steht hier direkt nebeneinander. Die Spielfilm-im-Dokumentarfilm-Szenen selbst parodieren die Filmgeschichte und bringen neben einer wilden Stilmischung weitere komödiantischen Höhepunkte in den Film. Gleichzeitig liefern sie die Kontrastfolie, vor der sich der in den Aussagen der Interviewten geschilderte tatsächliche Schrecken ihrer schweren Vergangenheit erst klar offenbart. Eine weitere wichtige Ebene dieses intelligenten Experiments ist der Ort im Exil, an dem die Pamir-Kirgisen ihre Vergangenheit rekapitulieren und als Filmkulisse auferstehen lassen. Seit immerhin 27 Jahren leben sie schon dort. Es ist wirklich ein Ort im Nirgendwo. Im Westen liegt das moderne Istanbul, in der Erinnerung der Älteren das Leben als Nomaden - teilweise schon fast verschwunden, teilweise noch ganz nah. Die Pamir-Kirgisen leben im ärmsten Teil der Türkei, ohne Arbeit und Perspektive, aber vermutlich dennoch in größerem Wohlstand als jemals in ihrer Geschichte. Sie haben auch immer noch Schafe. Die sind aus Europa importiert und am Verwildern.
Trotz seiner spielerischen Leichtigkeit und seines Humors gerät „37 Uses For A Dead Sheep“ zu keinem Augenblick in die Nähe belanglos-lächerlicher Albernheiten wie man sie zum Beispiel in dem chinesischen Ethno-Spielfilmchen „Mongolian Ping Pong“ ertragen musste. Hier geht es doch ersichtlich um mehr als um einen Pingpongball und pittoreske Eindrücke aus dem so wunderbar archaischen Nomadenleben. Für die Interviews wurden Digibeta-, für die Making-of-Szenen DV- und für die Spielfilmteile Super-8- und 16mm-Kameras verwendet. Die unterschiedlichen Formate verdeutlichen die Struktur des Films. Es versteht sich von selbst, dass „37 Uses For A Dead Sheep“ mit diesen Filmformaten und seinem überhaupt geringen Budget nicht nach Hochglanz aussieht. Da ein solches Aussehen aber ohnehin unpassend wäre, kann der Charme des weniger Perfekten offensiv eingesetzt werden. Es entsteht ein sehr bunter, aber auch sehr überlegt angefertigter Flickenteppich aus technisch nicht perfekten, aber künstlerisch überzeugenden Aufnahmen.
Die Authentizität von Dokumentarfilmen ist zurzeit angesagt. Sogar viele Spielfilme erzählen „wahre Begebenheiten“, bemühen sich häufig wie ein Dokumentarfilm auszusehen, arbeiten mit Mitteln des Dokumentarfilms oder geben streckenweise sogar vor, ein Dokumentarfilm zu sein. Dokumentarfilme schaffen es immer öfter in die Kinos und zeichnen sich dabei auffallend oft durch harte Themen und deutliche politische Botschaften aus. Lost Children, Road to Guantanamo, Darwins Albtraum oder “We Feed The World – Essen global” ließen sich hier anführen. „37 Uses For A Dead Sheep” mag einem neben diesen Filmen fast wie ein Leichtgewicht vorkommen. Das macht ihn nicht schlechter! Dieser Film ist nicht vergleichbar politisch brisant, dafür aber unerwartet humorvoll. Da der politische Diskurs momentan stark von Engstirnigkeit und Misstrauen dem Fremden gegenüber bestimmt scheint, ist er allein schon in der Offenheit, die er zeigt, dann doch durchaus politisch.