Manchmal dauert es aus den unterschiedlichsten Gründen sehr lang, bis es ein Film über den großen Teich nach Deutschland in die Kinos schafft. Und bedauerlicherweise sind es oftmals gerade kleine Independentjuwelen, die ihre Zeit brauchen, bis man auch hier in ihren Genuss kommen darf. „Half Nelson“ ist so ein Fall, lief er doch in den USA bereits für knapp zwei Jahren an, und konnte im Laufe der Monate etliche Preise einheimsen, unter anderem auch mal eben eine Oscarnominierung für Hauptdarsteller Ryan Gosling. Der Film selbst sollte jedoch, Auszeichnungen und Nominierungen hin oder her, aufhorchen lassen, hat man es hier doch mit einem sehr untypisch inszenierten Drogendrama zu tun, das bei genauerer Betrachtung auch noch sehr viel mehr zu bieten hat. „Half Nelson“ ist eine treffend beleuchtete Milieustudie, als auch ein leiser Film über Freundschaft, der sich sehr viel Zeit für die Entwicklung seiner Charaktere nimmt.
Dan Dunne (Gosling) ist Geschichts- und Sportlehrer an einer New Yorker Highschool. Er ist jung, aufgrund seines lockeren Auftretens bei seiner Klasse beliebt und unterrichtet die Schüler nach unkonventionellen Methoden. Sie sollen nicht nur lernen, sondern halt auch verstehen. Doch Dunne selbst hat ein Geheimnis, dass er bisher geheim halten konnte: Er ist hochgradig drogenabhängig, und bekommt sein Leben eigentlich überhaupt nicht in den Griff. Eines Tages erwischt ihn seine Schülerin Drey (Shareeka Epps) während eines Crack-Trips auf der Schultoilette. Doch statt ihn anzuschwärzen, entwickelt sich langsam eine zarte Freundschaft zwischen den beiden, die geprägt ist von Vertrauen und Rückschlägen, Verantwortung und Resignation. Denn nicht nur Dunne steckt im Drogensumpf. Auch Drey ist dabei, als Kurier eines Dealers immer mehr ins kriminelle Milieu abzurutschen. Gegenseitiges Helfen scheint nötig, erweist sich aber im Falle von Grey und Dunne als gar nicht so einfach.
Als gar nicht so einfach ist wohl generell erstmal die Beziehung der beiden Protagonisten zueinander zu bezeichnen. Regisseur Ryan Fleck arbeitet nämlich neben der langsamen Ausarbeitung der Charaktere auch mit einigen Auslassungen, die also zur klaren Charakterzeichnung (und somit Identifikationsmöglichkeit) fehlen, und es dem Zuschauer mitunter doch arg erschweren, der Beziehung von Dunne und Drey zu folgen und als solche anzunehmen. Der Verdacht einer schnell konstruierten Zusammenführung mit dem Ziel des gegenseitigen Aus-der-Misere-Holens, um zum Happy End überzugehen, liegt somit recht nahe.
Dennoch schafft es der Film, diese Bedenken immer wieder dann wegzuwischen, wenn er gerade vor möglichen Fehlentscheidungen steht. So ist z.B. die latente „Gefahr“ einer sexuellen Zuneigung beider Protagonisten nicht von der Hand zu weisen, und hätte dem Film bei seiner weiteren Ausarbeitung ganz sicher nicht gut getan und leicht die Klischeekiste geöffnet. Aber auch hier vermeidet „Half Nelson“ Fehler, und konzentriert sich stattdessen auf die Skizzierung eines Mannes, dem langsam, fast nebenbei, die Bewältigung seines Alltags aus den Händen gleitet. Dunnes Verlust der Kontrolle über das Leben (sowohl im Beruf, als auch in seinem Verhalten gegenüber Frauen) wird passend und vor allem differenziert geschildert. Dunne ist kein sichtbar abgewrackter Junkie im herkömmlichen Sinne, sondern jemand, der süchtig ist. Davon weiß er zwar, hat aber scheinbar seiner Situation nichts entgegenzusetzen, was vor allem im Zusammentreffen mit seiner Ex-Freundin deutlich wird, die den Absprung von den Drogen geschafft hat und kurz vor ihrer Heirat steht.
Dunnes Verhalten ändert sich auch nicht schlagartig, als Drey von seiner Abhängigkeit erfährt. Vielmehr versucht er, so weiter zu machen wie bisher. In ihrer privaten Begegnung außerhalb des Unterrichts sehen beide nicht sofort einen Ausweg aus all seinen (und später auch ihren) Problemen. Diese Probleme werden zwar klar dargelegt, aber eben in ihrer Ausarbeitung nicht filmisch überstrapazierend in den Fokus gerückt. Vielmehr gewinnt der Film seine hohe Intensität durch diese sich inhaltlich einer klaren Positionierung verweigernde Sequenzen. Zum Beispiel die beibehaltende Antihaltung von Dunne gegenüber jeglichen Hilfsangeboten (auch von Drey) reicht vollkommen aus, um zu zeigen, wie weit es mit seiner Sucht wirklich ist: Er stellt sich ihr schon gar nicht mehr. Und solche Szenen sind sehr viel wirkungsvoller, als das dauernde Abhandeln drogenbedingter Vollabstürze.
Das kleine Band zwischen beiden Hauptfiguren bleibt dennoch durchweg sichtbar, es wird nur nicht für den Zuschauer ständig visuell verstärkt. Das mag anstrengen und einigen für ein emotionales Mitempfinden zu wenig sein, ermöglicht „Half Nelson“ aber trotz seines schwierigen Themas auch eine seiner größten Stärken: Er moralisiert nicht. Dies wird in einer schier unerträglichen Szene deutlich, bei der Grey und Dunne erleben müssen, wie sich ihre Wege als Kurier und Kunde kreuzen. Doch auch hier erhebt Fleck keinen Zeigefinger. Stattdessen kullert eine Träne über die Wange der Schülerin. Das muss reichen, um ihre emotionale Niedergeschlagenheit zu verdeutlichen. Da muss niemand mit dem anderen reden. Vieles ist somit gesagt.
Schauspielerisch sind hier alle durch die Bank weg hervorragend, wobei vor allem Ryan Gosling (Stay, Lars und die Frauen, Der perfekte Verbrechen) hervorgehoben werden muss, der in seiner Rolle wirklich zu Höchstform aufläuft, und seinem Charakter durch minimale Gesten und Mimiken eine immense Tiefe verleiht. Etwas unverständlich bleibt dem gegenüber der Einsatz von wackeligen Handkameras und nervigen Zoomeffekten, die dem angenehm ruhigen Erzähltempo zuwiderlaufen und eine unnötige Hektik provozieren. Aber schieben wir das mal auf das nicht gerade hohe Budget, mit dem der Film auskommen musste.
Unterm Strich ist „Half Nelson“ also ein wirklich absolut sehenswerter Film, der eine interessante Geschichte ohne Moralisierung zu erzählen weiß. Sicher werden sich einige mit der langsamen (oder dann eben langatmigen) Erzählweise nicht anfreunden können. Lässt man sich aber auf das Tempo ein, wirkt dieser kleine große Independentfilm noch länger nach.