Vielen deutschen Kinogängern ist David Gordon Green - wenn überhaupt - durch den kürzlich angelaufenen Ananas Express bekannt. Die Kifferkomödie, die in den USA mit knapp 90 Millionen Dollar fast das Dreifache ihres Budgets einspielte (und in Deutschland floppte), markiert die erste Major-Produktion des Texaners. Doch bereits seit seinem Debütfilm „George Washington“ (2000) gilt der Regisseur und Drehbuchautor als eines der größten Talente der amerikanischen Independent-Szene. Ein Ruf, den er mit seinen folgenden Filmen „All The Real Girls“ und „Undertow“ noch festigen konnte. Seine vierte Regiearbeit „Engel im Schnee“ ist nun der erste seiner Independent-Filme, der auch in Deutschland einen Verleih gefunden hat. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Stewart O’Nan, der 1993 mit dem renommierten William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde, liefert Green eine kongeniale Verfilmung, die mit einem tollen Ensemble und einer sensible Inszenierung punktet.
Winter in einer Kleinstadt in Pennsylvania: Der Spielmannszug der örtlichen High School probt für den Auftritt beim nächsten Football-Spiel, als das Geräusch von Pistolenschüssen durch Ort hallt. Nach dieser kurzen Szene springt die Erzählung einige Wochen zurück, um die Ereignisse aufzurollen, die zu den Schüssen führten. Der 15-jährige Arthur Parkinson (Michael Angarano, The Forbidden Kingdom), einer der Posaunisten im Spielmannszug, verliebt sich in seine Mitschülerin Lila (Olivia Thirlby, Juno). Zeitgleich muss er miterleben, wie die Beziehung seiner Eltern auseinanderbricht. Auch seine ehemalige Babysitterin Annie Marchand (Kate Beckinsale, Underworld) durchlebt gerade die Trennung von ihrem Mann Glenn (Sam Rockwell, Per Anhalter durch die Galaxis). Sie ist mit der Situation völlig überfordert: Ihre Tochter Tara (Gracie Hudson) schlägt sie schon wegen Kleinigkeiten, neue Liebe erhofft sie sich ausgerechnet durch eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin. Glenn wiederum wurde nach einem Selbstmordversuch zu einem wiedergeborenen Christ, der wieder bei seinen Eltern lebt und seinen Frust in Alkohol ertränkt. Als er endlich wieder einen Job findet, glaubt er, seine Beziehung doch noch retten zu können. Doch dann geschieht eine Tragödie, die das Leben aller Beteiligten aus den Bahnen wirft…
Ausgehend von den Beziehungen von Arthur und Lila sowie Annie und Glenn entwickelt Regisseur Green, der auf Basis des Romans auch das Drehbuch verfasste, ein komplexes Geflecht und erschafft so den faszinierendsten Kleinstadtkosmos seit Todd Haynes Little Children. Beide Handlungsstränge bedienen sich dabei der gleichen zentralen Motive: dem Umgang mit persönlichem Verlust und dem Streben nach individuellen Glücksmomenten. Obwohl sie sich immer wieder überschneiden, sind sie dennoch bewusst als Gegenstücke angelegt: Während sich Arthurs Beziehung zu Lila trotz aller widrigen äußeren Umstände langsam zur ersten großen Liebe entwickelt, ist das Verhältnis von Annie und Glenn von immer neuen Rückschlägen geprägt. Für sich genommen würden beide Handlungsstränge wohl zu extrem erscheinen, durch das Zusammenspiel der beiden, durch die Abwechslung von Hoffnung und Trauer, erreicht der Film jedoch ein emotionales Gleichgewicht. Green inszeniert beide Stränge menschlich und behutsam, schreckt aber zugleich auch vor unbequemen Themen wie Ehebruch, Kindesmisshandlung und religiösem Fundamentalismus nicht zurück. Trotz immer wieder aufkeimender Hoffnung ist „Engel im Schnee“ deshalb ganz sicher auch kein leicht verdaulicher Film.
Kenner der Romanvorlage dürfen sich auf eine in weiten Teilen sehr werkgetreue Umsetzung einstellen, Szenenabfolge und inhaltliche Struktur wurden nahezu eins zu eins übernommen. Größere Änderungen finden sich nur in Bezug auf Arthur, dem im Film einige Probleme aus dem Buch erspart bleiben. Weggelassen wurden unter anderem der Umzug in eine Armensiedlung und die damit verbundenen Schmähungen in der Schule, der Alkoholismus seiner Mutter und die Besuche beim Psychiater. Die Trennung seiner Eltern läuft im Roman ebenfalls deutlich unversöhnlicher ab. Diese Änderungen, die sich auf den ersten Blick ein wenig nach Weichspülen anhören, waren aber bitter nötig, da nur so das oben beschriebene emotionale Gleichgewicht möglich wurde – mit all diesen zusätzlichen Schicksalsschlägen wäre die auf Spielfilmlänge komprimierte Geschichte einfach zu pessimistisch ausgefallen. Dass am Anfang des Films einige Informationen weggelassen werden – im Roman erfährt man gleich zu Beginn, auf wen die Schüsse abgefeuert wurden – ist hingegen aus rein dramaturgischen Gründen geschehen. Zusätzlich wurde die gesamte Handlung, die im Buch in den 70ern spielt, in die Gegenwart verlegt. Insgesamt erlangt der Film durch die Änderungen genug Eigenständigkeit, um die filmische Umsetzung zu rechtfertigen, orientiert sich ansonsten aber so nah an der Vorlage, dass auch Leser des Romans nicht verärgert werden.
Eine von Greens Stärken ist der feinfühlige Umgang mit seinen Charakteren. Das gilt neben seinen Dramen „George Washington“ und „All The Real Girls“ selbst für „Ananas Express“. Und auch bei „Engel im Schnee“ ist das nicht anders. Jede Szene verrät etwas Neues über das Innenleben der Charaktere und auch die Nebenfiguren, die mit viel Tiefgang ausgestattet sind, bekommen genug Raum zur Entfaltung. Dass dies so gut funktioniert, ist zu großen Teilen auch dem fantastischen Darstellerensemble zu verdanken. Die atypisch gecastete Kate Beckinsale bekommt hier nach zahlreichen Action- und Komödien-Rollen endlich wieder einmal Gelegenheit, ihre schauspielerischen Fähigkeiten darzubieten. Als Annie, die trotz ihrer vielen Fehler dem Zuschauer immer sympathisch bleibt, liefert sie so prompt die beste Vorstellung ihrer Karriere. Die schwierigste Rolle hat allerdings Sam Rockwell, dessen Glenn auf den Zuschauer am ambivalentesten wirkt. Gestisch, mimisch und optisch stark an Edward Norton erinnernd, schafft es Rockwell ebenso wie Beckinsale, das Publikum mit viel Einfühlungsvermögen auf seine Seite zu ziehen.
Michael Angarano und vor allem die wunderbare Olivia Thirlby als verschrobene Lila haben maßgeblichen Anteil daran, dass Green mit der Beschreibung ihrer Beziehung eine der unaufgeregtesten und besten Teenager-Romanzen der vergangenen Jahre gelingt. Bei der Crew setzte Green auf vertraute Kräfte: Als Kameramann fungiert wie bei allen Green-Filmen Tim Orr, der den pennsylvanischen Winter in wunderschöne Bilder taucht. Für den sparsam eingesetzten Soundtrack zeichnet Greens Hauskomponist David Wingo verantwortlich. Inszenatorisches Highlight des Films ist aufgrund dieses Zusammenspiels von Regie, Kamera und Musik eine rund zehnminütige Montage im Mittelteil des Films, die alle Charaktere bei einer schweren Tragödie zusammenführt.
„Wie bei allem anderen, was in diesem Winter passiert war, würde ich nicht zulassen, dass es mich vom Glücklichsein abhielt.“ - Arthur
Auch wenn dieses Zitat aus der Romanvorlage im Film selbst nicht auftaucht, passt es doch perfekt zur Leinwandversion von „Engel im Schnee“. Alle Charaktere versuchen, auch wenn es am Ende nur wenige schaffen, ihr persönliches Glück zu finden. Und genau das ist das Bemerkenswerteste an Greens Film: Er ist zwar schwermütig, bedrückend und stellenweise tieftraurig, dennoch scheint immer wieder auch ein Funken Hoffnung durch.