Von vorne bis hinten kann sich dieser Psycho-Thrill mit aller Achtung (fernab vom Mainstream) sehen lassen. Das französische Kino hat in den letzten Jahren unheimlich an Qualität, Innovativität und an Popularität zugelegt (siehe beispielsweise: „Frontier(s)“, „Eden Log“, „Küss mich bitte“, „Der Sohn von Rambow“). Auch "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" beweist diesen filmischen Aufschwung der Franzosen. Grandios wird hier Psychokino inszeniert. Die Kamera variiert hierbei mit mehreren Einstellungen. Auffällig ist jedenfalls, dass die Gesichter und deren Mimiken aber überwiegend häufig und nah gezeigt werden. Dabei ist die absolut umwerfende Déborah Francois ein herrlicher Augenschmaus. Schon allein wegen ihr und ihrer Leistung lohnt sich dieser Film. Dabei kommen die Mimiken und Visagen der Protagonisten manchmal gar ohne viele Dialoge oder Monologe aus. Monologe gibt es sowieso nicht und die schmal gehaltenen Dialoge sind trotzdem sinnvoll und hochkarätig. Trotzdem haben die Filmemacher hier eher versucht, die Bildsprache und manchmal auch die Wortlosigkeit sprechen und wirken zu lassen. Dieses Konzept geht voll und ganz auf... so muss sich der Zuschauer auch in einigen Szenen einfach seinen Teil denken (und wird auch durch die Bildsprache dazu inspiriert). Der Twist, das Melanie bei der zweiten Aufführung des Musiker-Trios als Umblätterin nicht mit von der Partie sein wird ist vorausahnbar, aber nicht gänzlich voraussehbar. Dadurch, dass die Eltern von Melanie Metzger sind, wird der Zuschauer erstmal auf die falsche Fährte geführt und denkt, dass eventuell irgendwann das psychopathische Großgemetzel los gehen wird. Obendrein wird dieser Glaube bei erfahrenen Filmkonsumenten gestärkt, da solche psychopathischen und soziopathischen Killerinnen und Amokläuferinnen momentan en vogue zu sein scheinen (siehe hierzu beispielsweise: "All the Boys love Mandy Lane", "Frontier(s)" oder "Killer Killer"). Doch wie schon in der filmstarts.de Kritik steht, ist der Psychoterror der Melanie viel subtiler (ohne sich in Detailreichtum diesbezüglich zu verlieren). Sie ist sehr intelligent (und dabei eher wortkarg), wunderschön, kühl berechnend (sie klügelt den Plan aus und zieht ihn durch) und gnadenlos (was die Szene mit dem Chello oder Kontrabass zeigt, den sie einfach auf den Fuß des Chellisten oder Kontrabassisten fallen lässt, als dieser sie sexuell angrub). Die Story ist schlüssig, unkompliziert, spannend und enthält keine logischen Fehler. Sogar die Rachegelüste sind voll nachzuvollziehen. Alle Schauspieler passen in ihre Rollen wunderbar rein (außer das man den beiden Hauptdarstellerinnen nicht so recht abnimmt, das sie lesbische/homosexuelle Tendenzen und Ambitionen haben - obwohl die Verliebtheit zwischen ihnen doch sehr glaubwürdig und veritabel verkörpert ist!) und füllen diese mit viel Brillanz aus. Während Déborah Francois es schafft, die Ausstrahlungen je nach Gebrauch zu ändern (in einer Szene ist sie lieb, wohlerzogen, anständig und strahlend – in der nächsten Szene hat sie eine düstere Ausstrahlung oder ein psychopathisches Lächeln resp. Gesichtsausdruck der Genervtheit, Abgezocktheit und Überlegenheit), spielt Catherine Frot die neurotische, traumatisierte, ängstliche, bestimmende und bedenkenvolle Pianistin glaubhaft. Während die junge Dame sehr sexy und aufreizend daher kommt ist die ältere Frau von einer Erotik beseelt, die ältere Frauen eben durch Lebenserfahrung und Alter ausbilden können. Diese Kombination der beiden Charaktere ist perfekt. Auch die Kombi von Julie Richalet als ganz junge 10 jährige Melanie und Déborah Francois als älter und reifer gewordene Melanie passt wie die Faust aufs Auge. Die Blicke und Mimiken der beiden sind ähnlich gelungen. Gerade in der Anfangsszene, wo die ganz junge Melanie beim Konservatorium vorgespielt hat und danach aufsteht und mit einem Psychoblick in die Kamera guckt, ähnelt doch stark ähnlichen und späteren Einstellungen mit der älter gewordenen Melanie. Die Charakterisierung der Protagonisten genügt und schreitet schrittweise voran. So ist die Handlung, Charakterisierung der Charaktere und das Filmgeschehen nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig (es gilt eher das Prinzip weniger ist mehr) und man fühlt sich prätentiös unterhalten nach dem Filmvergnügen. Außerdem passt die Story nicht so richtig zur Freudschen Theorie, in der so etwas wie Rachegelüste und deren Auslebung neben den klassischen psychologischen Abwehrmechanismen der Verdrängung, Sublimation, Verschiebung, Projektion usw. nicht vorkommen. Auch das macht den Film sympathisch. Hier wird der Grund für die Ursache der Rache gleich zu Anfang geklärt und leitet den Film zutreffend ein. Ohne großes Brimborium bleiben beim Zuschauer am Ende nur wenige Fragen übrig, die aber eigentlich nichts mit den Filmgeschehnissen zu tun haben: Was wird aus Melanie? Was wird aus der Mutter und dem Kind (mit seiner Sehnenentzündung)? Wie reagiert der schockierte Vater weiterhin? Ist Melanie wirklich lesbisch oder hat sie die Lesbizität nur gespielt? Werden sich die beiden Lesben wiedersehen? Am Ende nach dem sozusagen Showdown läuft Melanie entspannt, erleichtert und von einer Genugtuung befriedigt die Straße hinab und es ist fast schade, dass die Kamera sie in dieser Szene nur von der Seite her begleitet. Ich hätte sie jedenfalls gern nochmal von vorne gesehen. Das Oberschichtsverhalten und die Diskretion oder überhaupt das Verhalten der Menschen untereinander wird auch meisterhaft und sehr französisch dargestellt. Da wird einem auch klar, wieso und weshalb die Franzosen sich als große Kulturnation stilisieren und als solche in aller Welt auch gelten (neben den Engländern und den Deutschen aus Europa). Alles in allem ein lohnenswertes und sehenswertes Filmereignis, das Fans von Psychothrillern auf gar keinen Fall verpassen sollten.