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    Loveless
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Loveless
    Von Carsten Baumgardt

    Festivalliebling Andrey Zvyagintsev hat sich im Laufe der Jahre als einer der einflussreichsten russischen Filmemacher abseits des staatlichen Systems etabliert. Gleich mit seinem Debüt „The Return“ (2003) gewann der ausgebildete Schauspieler, der erst mit Ende 30 zum Regisseur umschulte, den Goldenen Löwen in Venedig. Endgültig durch die Decke schossen die Kunstkino-Aktien des Russen jedoch erst mit seinem markerschütternden Melodram-Meisterwerk „Leviathan“ (2014), das als Bester nicht-englischsprachiger Film für den Oscar nominiert wurde und beim Filmfestival in Cannes den Drehbuchpreis gewann. Auf ähnlich abgründigen Pfaden wandelt Zvyagintsev nun auch mit seinem ebenfalls im Wettbewerb an der Côte d‘Azur uraufgeführten „Loveless“ - ein brutal-bitteres Familien-Drama, in dem der Regisseur aus einer Alltagssituation ganz organisch nach und nach etwas Universelleres entstehen lässt, das zugleich als düstere Allegorie auf das Gegenwartsrussland verstanden werden kann.

    Das Ehepaar Boris (Alexey Rozin) und Zhenya (Maryana Spivak) steht kurz vor der Scheidung. Das gemeinsame Apartment in Leningrad soll verkauft werden, beide sind bereits mit neuen Partnern liiert. Boris hat seine Freundin Masha (Marina Vasilyeva) geschwängert und plant die Zukunft mit ihr, während Zhenya sich in den um einiges älteren und wohlhabenderen Anton (Andris Keishs) verliebt hat. Trotzdem wohnen die Noch-Eheleute weiterhin zusammen und streiten sich in einer Tour, worunter vor allem ihr verschlossener zwölfjähriger Sohn Alexey (Matvey Novikov) furchtbar leidet – ohne dass seine Eltern das mitgekommen. Beide können mit ihrem Kind ohnehin wenig anfangen und empfinden ihn in erster Linie als Last. Als Alexey spurlos verschwindet, müssen (beziehungsweise müssten) Boris und Zhenya zusammenarbeiten, um ihren Sohn wiederzufinden. Während die Polizei kaum etwas unternimmt, setzt zumindest ein gemeinnütziger Hilfsdienst bei der Suche nach dem Jungen alle Hebel in Bewegung …

    Die Werke des russischen Auteurs Andrey Zvyagintsev wirken zwar auf den ersten Blick extrem naturalistisch, sind aber zugleich auch filmgewordene Metaphern. So treibt Zvyagintsev den Realismus hier wieder bis an die Schmerzgrenze, zugleich schwelt unter den persönlichen Konflikten aber immer noch eine zweite Ebene, diesmal etwa ein ätzend böser Kommentar zum gegenwärtigen Russland: So spiegelt sich in der Figur der Mutter etwa der auch von Wladimir Putin zelebrierte Körperkult (Zhenya arbeitet in einem Highend-Haarstudio und ist wiederholt beim Fitnesstraining zu sehen), während die Boris-Figur durchaus auch als satirisch angehauchte Kritik an der wohlhabenden russischen Mittelschicht funktioniert (man sieht öfter, was genau er sich in der Firmenkantine auflädt und kriegt auch jedes Mal genau mit, wieviel das kostet). Zudem entlarvt Zvyagintsev die Polizei als Teil eines maroden Staatsapparats und zeigt, wie die Menschen vor den anti-ukrainischen Propagandasendungen des russischen Fernsehens zunehmend in Depressionen verfallen (zwischenzeitlich stellt sich da sogar ernsthaft die Frage, ob Menschen in dieser Umgebung überhaupt „gut“ sein können, aber dann zeichnet Zvyagintsev die freiwilligen Helfer der Such-Organisation doch noch als hochkompetent und absolut altruistisch).

    Obwohl der inzwischen fünfte Spielfilm des Regisseurs aufgrund der konsequenten Abwesenheit von Sympathieträgern (noch) schwerer zugänglich ist als jüngst „Leviathan“, verhindert das nicht, dass man als Zuschauer von der erdrückenden Wucht des Films zunehmend regelrecht überrollt und mitgerissen wird: Nachdem Zvyagintsev zunächst die Ehe von Boris und Zhenya unnachgiebig seziert, treibt er die Spannung mit dem plötzlichen Fokus auf das Verschwinden des Kindes zielstrebig in die Höhe und schnürt dem Publikum so zunehmend die Luft ab – auch weil sich immer neue Abgründe auftun und die manchmal sogar offene Ablehnung, die die Eltern ihrem vermissten Kind entgegenbringen, schließlich nur noch schwer zu ertragen ist. Das Kind ist hier definitiv das unschuldige Opfer - und trotzdem sind Boris und Zhenya nachvollziehbare Figuren aus Fleisch und Blut, niemals klischeehafte Antagonisten. Während die Atmosphäre immer bedrückender wird, entlockt Zvyagintsevs Stammkameramann Mikhail Krichman der grauen Tristesse rund um eine gutbürgerliche Hochhaussiedlung trotzdem immer wieder grandios-poetische Bilder, die man staunend bewundern, aber genauso gut als bitterböse-ironischen Kommentar auffassen kann.

    Maryana Spivak spielt Zhenya intensiv und impulsiv als selbstbezogene Mutter wider Willen, die unfähig ist, Liebe für ihr Kind zu empfinden. Ständig starrt sie auf ihr Smartphone, produziert sich für Facebook und Instagram, während Alexey Rozin seine Rolle betont duckmäuserisch anlegt – in der christlich-fundamentalistisch geprägten Firma, in der Boris als Sales-Agent arbeitet, sind ausschließlich (glücklich) Verheiratete angestellt, wobei ihm sein Ansehen in der Firma noch wichtiger als die Rückkehr seines verschwundenen Sohns zu sein scheint. Der junge Matvey Novikov hat zwar als später vermisster Alexey nicht viele Szenen, aber eine davon brennt sich sofort in das Gedächtnis des Zuschauers ein: Als er an der Tür lauschend erfährt, dass die Scheidung seiner Eltern beschlossene Sache ist, bricht für den Jungen eine Welt zusammen - was Novikov mit einer erschütternden Performance greifbar macht, während Zvyagintsev mit einer überraschenden perspektivischen Enthüllung das Übrige dazu tut, um das Publikum in der Szene vollends emotional an die Wand zu drücken.

    Fazit: Der russische Anti-Establishment-Regiestar Andrey Zvyagintsev landet mit „Loveless“ den nächsten Volltreffer - ein kühles, aber herzzerreißendes Drama, das von einer unwiderstehlichen Grimmigkeit geprägt ist.

    Wir haben „Loveless“ im Rahmen der 70. Filmfestspiele in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.

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