Im Jahr 2000 brachte der französische Romancier und Gesellschaftspoet Michel Houellebecq das Phänomen des Sextourismus auf den Punkt, als er in seinem Roman „Plattform" vom idealen Tauschhandel einer globalisierten und von sozialen Klüften gezeichneten Marktgesellschaft sprach: „Jeder gibt, was er hat – die einen ihr Geld, die anderen ihren Körper." Die Herren der Schöpfung bedienen sich oft im asiatischen Raum, ähnlich motivierte Frauen zieht es in die Dominikanische Republik oder auf den Schwarzen Kontinent. Während die männliche Phantasie vom Sexurlaub von todernst („This is Love" von Matthias Glasner) über komisch („Hangover 2") bis dokumentarisch („Whores' Glory") schon in allen möglichen Tonlagen im Kino durchgespielt wurde, blieben die Touristinnen bisher unterrepräsentiert. Mit „In den Süden" hatte Laurent Cantet dieses Phänomen zwar angetippt, doch bildete es dort nur den Aufhänger für ein weitgefächertes Themenspektrum. In seinem bitterbösen Drama „Paradies: Liebe", dem Auftakt einer geplanten Trilogie über Frauen auf existenziellen Weltreisen, widmet sich nun Ulrich Seidl dem schwierigen Stoff des weiblichen Sextourismus. Mit seinem bisherigen Doku- („Tierische Liebe") und Spielfilm-Werk („Hundstage", „Import Export") hat der Österreicher deutlich gemacht, dass er bei der Bebilderung seiner Themen bis an die Schmerzgrenze geht und noch viel weiter. Hinschauen auf eigene Gefahr!
Das Leben der bei einem Autoscooter arbeitenden Mittfünfzigerin Teresa (mutig: Margarethe Tiesel) ist trostlos. Seit geraumer Zeit alleinstehend, fristet die Österreicherin ihr Leben zwischen Job, Haushalt und einer aufmüpfigen Tochter, die wenig Interesse für ihr Befinden hat. Zum anstehenden Geburtstag will sich Teresa mal etwas gönnen und bucht einen Urlaub in einer Ferienanlage in Kenia. Es ist dabei nicht bloß das exotische Ambiente, das sie auf den Schwarzen Kontinent gelockt hat. Die vielbeschworene Anhänglichkeit und Ergebenheit der einheimischen Männer lösen Phantasien in der romantisch ausgehungerten Frau aus, denen sie hier nachgehen will. Nach ersten gescheiterten Versuchen lernt sie Mungu (Peter Kazungu) kennen, der ihr die große Liebe verspricht und einige Nächte mit ihr verbringt. Dann jedoch beginnt er damit, die hoffnungslos verliebte Teresa nach Strich und Faden auszunehmen. Gemeinsam mit und angefeuert von einer Schar sexfixierter Urlauberinnen begibt sich die Frau mit dem gebrochenen Herzen daraufhin in eine Hölle sexueller Ausbeutung, in der es nur Verlierer gibt...
„Money can't buy me love" sangen einst die Beatles. Und auch wenn die Fab Four oft die Wahrheit sprachen, lagen sie in diesem Falle doch falsch. Die Liebe, die der Filmtitel noch als paradiesisches Ideal anpreist, ist in Ulrich Seidls Werk längst zur Ware geworden. Zu Beginn, als die schüchterne Teresa noch auf der Suche nach romantischen Urlaubsflirts ist, scheint es nur um kleine Gesten der Intimität zu gehen. Ein Augenkontakt, so Teresa, würde schon reichen, um sie in emotionale Wallungen zu bringen. Dann kommt es zu einer der vielen und in jeder Hinsicht spektakulär-trostlosen Sexszenen. Voller Scham giert die vollschlanke und nicht mehr ganz junge Teresa nach Berührungen und verdrängt dabei das Wissen, dass die Toy-Boys nicht wirklich an ihrem Körper oder ihrem Charakter interessiert sind, sondern nur nach immer abstruseren Gründen suchen, ihre Gönnerin um ihr Geld zu bringen.
Die furchtlos aufspielende TV-Darstellerin Margarethe Tiesel kann für die authentische Darstellung ihrer seelisch gestrandeten Figur nicht genug gelobt werden. Sie hat nicht nur ein Talent für die komischen Momente, die ihre österreichische Bräsigkeit vor exotischer Kulisse erst richtig zur Entfaltung bringen, sondern ist auch beherzt genug, die totale sexuelle und moralische Verrohung auf den Punkt zu spielen. Wer eine derart belastende Rolle annimmt, muss über ein starkes Nervenkostüm verfügen – so wie auch das Publikum, das sich auf Seidls Fahrt durchs irdische Fegefeuer einlässt. Wer ein beschauliches Arthouse-Drama samt gut gemeinter Moral von der Geschicht' erwartet, erlebt eine böse Überraschung, denn der Regisseur nimmt keinerlei Rücksichten. Vielmehr steht nicht nur die Schamlosigkeit der Ersten, sondern auch die der Dritten Welt am Pranger. Afrika-Romantik vom Schlage der „Weißen Massai" wird ausgespart, vielmehr fühlt sich „Paradies: Liebe" wie eine Mischung aus Ulrich Köhlers doppelbödiger „Schlafkrankheit" und Sonja Heiss‘ Fremdschäm-Epos „Hotel Very Welcome" an.
Seidl konfrontiert sein Publikum mit beißender, doch stets realistischer Situationskomik, die in der einen Sekunde zum Lachen animiert und in der nächsten beschämt. Dabei wälzt er besonders unangenehme Momente minutenlang aus, bis auch der hartgesottenste Zuschauer irgendwann das Gesicht in den Händen vergräbt. So etwa beim ersten höchst verkrampften Liebesspiel zwischen Teresa und Mungu oder im „Finale", einer langen Schilderung von Teresas improvisierter Geburtstagsfeier, in der ein Stripper im „erotischen Fadenkreuz" von vier aggressiven Touristinnen aufgerieben wird. Was man hier zu sehen bekommt, üerschreitet so manche Grenze – übrig bleibt nur existenzielle Erschöpfung. Am Schluss steht hier keine Katharsis, keine Läuterung und noch nicht einmal eine Katastrophe, sondern nur blanker Ekel; kein Ende mit Schrecken, sondern ein Schrecken ohne Ende.
Fazit: „Paradies: Liebe" tut weh und verlangt seinem Publikum alles ab. Wer durchhält und nicht vor Entrüstung das Handtuch wirft, wird mit einem eindringlichen Filmerlebnis belohnt, wie man es so schnell nicht vergessen wird.